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Fremder an meinem Ufer

Fremder an meinem Ufer

Titel: Fremder an meinem Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lindsay Gordon
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hinstarren.
    Dann kniete ich nieder und sah mir sein Gesicht genau an. Seine Augäpfel zuckten unter den Lidern, doch er schlug sie nicht auf. Er holte flach und zittrig Luft. Endlich ging mir auf, dass ich nicht nur eine lebende Legende ansah, sondern dass diese Legende vielleicht nicht viel länger leben würde, wenn ich nichts unternahm. Sowohl die humanoiden als auch die delphinähnlichen Teile seines Körpers wiesen Anzeichen eines schweren Schocks auf. Ich konnte keine Verletzungen erkennen, doch bei Walen und Delphinen reicht der Stress, den es bedeutet, an Land zu stranden, aus, um einen Schock zu verursachen. Dieser … dieser Meermann litt vielleicht unter dem gleichen Problem.
    Ich griff nach meinem Handy, doch dann dachte ich an den Zirkus, zu dem sich das hier entwickeln würde; daran, wie das Personal des Aquariums auf ihn reagieren würde. Die Wissenschaftler wären fasziniert. Die PR-Abteilung würde überschnappen. Das war das Großartigste, was der Einrichtung je passiert war. Und genau das ließ mich innehalten.
    Ich hatte selbst Angst vor der Presse, dem Scheinwerferlicht und der Aufmerksamkeit – ich konnte mir vorstellen, wie grauenhaft das für ihn wäre.
    Stattdessen untersuchte ich ihn, so gut es ohne Ausrüstung ging. Ich brauche einen Tierarzt, dachte ich; doch dann wurde mir klar, dass ein Tierarzt genauso ratlos wäre wie ich. Aufgrund meiner Erfahrung vermutete ich, dass ich den Puls am Hals fühlen konnte wie bei einem Menschen und versuchte es.
    So etwas wie ein elektrischer Schlag fuhr von seiner Haut direkt in mein Hirn – oder war es meine Klitoris? – und erfüllte mich mit seiner Gegenwart und mit einer primitiven, animalischen Panik, die sich wie Begehren anfühlte. Mein erster Gedanke war Hitze, aber was mich durchzuckte, war keine Hitze, sondern pure Energie.
    Ich bin schon mit Delphinen geschwommen, und ich weiß, wie sich ihre Haut anfühlt; gummiartig, aber auch weich und nicht unangenehm. Wie nasser Samt. Ohne, dass es einen Anlass dafür gab, stellte ich mir vor, wie sich sein nasser, samtiger Körper anfühlen würde, wenn er sich an meine nackte Haut presste. Sein sinnlicher Mund würde auf meinen treffen, zuerst sanft und dann drängender, und an meiner empfindsamen Unterlippe knabbern, bis sich meine Lippen öffneten, um seine Zunge einzulassen, damit sie an meiner leckte. Seine Genitalien würden sich vollständig ausfahren, und sein Penis würde wachsen und gegen meinen nackten Schenkel drücken, bis er sein Gewicht verlagerte und meine Beine auseinanderdrückte … mit seiner Schwanzflosse.
    Noch nie hatte ich solche Fantasien gehabt. Keine Ahnung, warum ich jetzt damit anfing. Ich wusste nur, dass dieses letzte Detail mich daran erinnerte, dass er kein Mensch war, und mich aus meinem erotischen Tagtraum riss.
    Hilf mir , hörte ich; oder besser gesagt, ich fühlte es. Er schlug die Augen auf. Die Pupillen waren durch den Schock erweitert, und es war kein Weiß in seinen Augen. Das Wenige, was ich vom Augapfel erkennen konnte, war von einem reinen, blassen Seegrün. Die Bedeutung seiner Botschaft war unmissverständlich, sogar ohne Worte. Hilf mir, Heilerin. Krank. Bitte hilf mir. Und dann wieder dieser Energiestrom. Er hatte entsetzliche Angst, aber er vertraute mir – oder war so verzweifelt –, dass er sich mir ergab. Mir, die ich ihm genauso fremdartig erscheinen musste wie umgekehrt.
    Er legte die Hand auf meine und versuchte sie zu drücken. Sein Griff war schwach, aber der Energiestoß, der davon ausging, lief bebend durch meinen ganzen Körper. Ich begriff, wenn auch ohne Worte, dass er aus meinem Geist die Gedanken an die Mediensensation, die er auslösen würde, auffing und sie fürchtete. Vielleicht blieb ihm nicht viel anderes übrig, als mir zu vertrauen, oder er spürte meine Faszination und wie ich auf ihn reagierte. Ich war schon immer diejenige, die verletzte Tiere aufliest. Und ich habe eine Schwäche für Männer mit grünen Augen.
    Ich rannte zurück zum Haus und kehrte mit meinem Pickup zurück. Nach ein paar lächerlichen Manövern unter Zuhilfenahme einer provisorischen Trage und der Seilwinde des Trucks – wie eine Robbe oder ein Delphin bestand er nur aus Muskeln und war schwerer, als er aussah – packte ich ihn auf der Ladefläche des Trucks in feuchte Decken und fuhr nach Hause. Seine Haut fühlte sich kalt an; er war unterkühlt. Vielleicht war er ja wie die Meeresschildkröten, die manchmal im Winter an die Küste kamen, ein

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