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Fremder an meinem Ufer

Fremder an meinem Ufer

Titel: Fremder an meinem Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lindsay Gordon
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schossen hinunter, durchquerten schwebenden Seetang, als sie wild einem Schwarm Neonfische nachjagten, und lachten lautlos, als die Fische zwischen ihren mit Schwimmhäuten verbundenen Fingern hindurchhuschten.
    Die Bilder vermittelten mir kein Gefühl von großer Romantik oder auch nur Sex; stattdessen empfand ich den Jubel darüber, mit jemandem zusammen zu sein, den man gern hatte. Sie waren mehr als Freunde, ja, aber auch mehr als Liebende.
    Die Vision verblasste, und die Emotionen ebenfalls. Ich sah den Meermann an. Seine Augen waren geschlossen, und sein Atem ging gleichmäßig. Er schlief. Und ich schlummerte, beruhigt vom Brummen des Whirlpools und dem Gefühl, seine Arme um mich zu spüren, ebenfalls ein.
    Als ich erwachte, war ich erstaunt darüber, wie tief im Westen die Sonne stand. Die Aktion am Vormittag hatte mich erschöpft. Ich sah den Meermann an. Er schien zu schlafen, doch er hielt sich nicht mehr an mir fest, obwohl er die Arme um mich geschlungen hatte. Stattdessen schaukelte er sanft in der leichten Strömung des Whirlpools. Seine Hautfarbe war frischer.
    Ich machte mich von ihm los, und er ging nicht unter, als ich ihm meine letzte Unterstützung entzog. Gut. Ich musste wirklich aus dem Wasser heraus.
    Ich schnappte mir mein Flanellhemd und lief zitternd ins Haus, um der Toilette einen dringend nötigen Besuch abzustatten. Dann schaute ich wieder nach draußen. Dem Meermann schien es gut zu gehen, daher kümmerte ich mich um mein nächstwichtigstes körperliches Bedürfnis: Essen und Trinken.
    Ich kippte ein großes Glas Wasser hinunter, stellte Tomatensuppe in die Mikrowelle und bestrich ein Stück Brot dick mit Butter. Dann hielt ich inne, und die Scheibe blieb auf halbem Weg zu meinem Mund in der Luft hängen. Wenn ich schon ausgehungert war, wie mochte es dem Meermann ergehen? Und was sollte ich ihm zu essen geben?
    Sobald die Suppe fertig war, aß ich hastig weiter, wobei ich in der Küchentür stehen blieb, weil ich so wenigstens einen Teil des Whirlpools auf der Veranda erkennen konnte. Als ich die letzten Tropfen Suppe mit dem letzten Stückchen Brot auftunkte, erhaschte ich eine Bewegung. Sekunden später kniete ich an dem Becken und streckte eine Hand aus, um ihn zu beruhigen, während er wilde Blicke um sich warf und seine Umgebung nicht erkannte. Ich versuchte, Gedanken an Sicherheit und Genesung auf ihn zu projizieren. Er wurde ruhig und lächelte zu mir auf.
    Danke . Er legte eine Hand auf meine, die auf seiner Schulter ruhte.
    Darauf konnte ich nichts sagen. »Bist du hungrig?«, fragte ich.
    Die Antwort, die ich bekam, war deutlich. Nun, es war ja klar, dass er rohen Fisch aß, oder?
    Alles, was ich hatte, waren gefrorene Lachspatties. Er verzog das Gesicht, war aber hungrig genug, um sie zu probieren. Ich beschwor ein Gedankenbild des hiesigen Fischmarkts herauf und versprach ihm für die Zukunft etwas Besseres.
    Während er aß, machte ich eine Tasse Tee und zog Jeans und ein warmes Sweatshirt an, um die Kälte des Frühlingsabends abzuhalten.
    »Wie geht es dir?«, erkundigte ich mich. Es machte mich verlegen, angezogen und ein Stück entfernt von ihm zu sitzen, und kurz fürchtete ich, wir könnten nicht kommunizieren, ohne uns zu berühren.
    Doch er zerstreute meine Befürchtungen mit einem Lächeln, das auch seine meergrünen Augen erreichte. Viel besser. Ich verdanke dir mein Leben … wie soll ich dich nennen?
    » Maris.« Irgendwie hatten meine Eltern meine Berufung geahnt, denn Maris bedeutet »aus dem Meer stammend«. »Und wie heißt du?«
    Zum ersten Mal erzeugte er tatsächlich einen Laut, und ich erschrak so sehr, dass ich zusammenzuckte und ins Becken gekippt wäre, hätte er nicht blitzschnell die Hände gehoben, um mich zu aufzufangen.
    Der Laut war dem Gesang eines Wals oder dem Quietschen eines Delphins nicht unähnlich. Keine Ahnung, warum ich etwas anderes erwartet hatte. Wir hatten unsere »Gespräche« nicht auf Englisch geführt. Er übermittelte mir Bilder, Ideen, Vorstellungen.
    Seine Berührung hatte mich zum Zittern gebracht, und ich wusste nicht warum. Um nicht daran zu denken, setzte ich mich wieder auf und führte den Gedankengang bezüglich der Sprache weiter.
    »Ich bin mir nicht sicher, ob ich das nachmachen kann«, meinte ich und lachte verlegen. »Hast du etwas dagegen, wenn ich einen Namen aussuche, der für mich leichter auszusprechen ist?« Als er geistig zustimmte, überlegte ich kurz. »Wie wäre es mit Dylan?«, schlug ich dann vor.

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