Friedhof New York
seine Lippen, und so sprach auch keiner.
Die Stimme war nur mehr ein Raunen, als hätte sich der Wind in irgendeiner Ecke verfangen.
»Verräter… Verräter…«
Tom hörte dieses eine Wort sehr deutlich. Zudem wiederholte es der Bleiche ständig. Jedesmal wenn er sprach, zuckte es in seinen Augen, als würden dort Blitze hervorströmen, um sich in die Seele des Angesprochenen zu brennen.
Die Gestalt stand auf dem Träger, ohne sich zu rühren. Bisher hatte sich Tom den Tod immer in der alten Form vorgestellt. Als Sensenmann, der kam und seine mörderische Waffe schwang, damit die Klinge in den Körper des Verfluchten rasen konnte.
Der hier trug keine Waffe und war trotzdem gefährlich. Tom ärgerte sich auch darüber, daß seine Beine eingeschlafen waren. Auch wenn er gewollt hätte, er hätte sich längst nicht so bewegen können, wie er es hätte tun müssen.
Wie angeklebt hockte er auf dem Eisenträger und umklammerte dessen Seiten wie ein Reiter das Pferd mit seinen Schenkeln.
Der Todesbote kam näher.
Kein Geräusch war zu hören.
Er schwebte über den Träger hinweg. Seine Kutte zeigte eine dunkelgraue Farbe. Die Kapuze war in die Höhe gezogen worden. Sie umgab einen Teil seines Kopfes. Das Gesicht erinnerte noch immer an eine Kreidezeichnung, das wiederum blieb nicht so, denn plötzlich veränderte es sich. Es plusterte sich auf, es nahm die Form eines Ballons an, seine Farbe wechselte vom Kreideweiß zu einem blassen Rosa, wie es nur bei sehr kleinen Menschen, bei Babys, der Fall war.
Dick, rund, aufgeplustert und trotzdem böse, abstoßend und widerlich.
Ein Gesicht des Ekels, als wäre aus ihm in den letzten Sekunden eine andere Person geworden.
Das Babygesicht! Nicht schön, nicht lieblich, dafür eine Fratze des Schreckens. Mit aufgeplusterten Wangen, als wäre von innen Luft hineingeblasen worden. Ein kleiner Mund, der sich durch eine nach innen gerichtete Bewegung noch mehr zusammengezogen hatte. Glattes Fett bildete das Gesicht, glänzend wie eine dünne Schwarte, die kein einziges Haar oder eine Borste aufwies.
Ekel strömte dem Indianer entgegen. Dieser Veränderte mochte ihn nicht, er wollte dafür sorgen, daß Tom nicht zu den Lebenden zurückkehrte.
»Jericho…«
Urplötzlich brach es aus Tom hervor. Der Name mußte einfach heraus.
Er konnte ihn nicht mehr länger für sich behalten. Wie ein Druck hatte er in seinem Körper gelegen, und der Todesbote verzog die dicken Lippen zu einem widerlichen Lächeln.
Er beugte sich vor.
»Verräter«, sagte er wieder. »Du bist ein widerlicher Verräter. Aber Jericho weiß Bescheid. Er hat dir die Träume geschickt, Tom. Du hättest alles für dich behalten sollen.« Das Babygesicht zuckte an den Wangen.
Sie nahmen noch mehr an Dicke zu. Aus den runden Nasenlöchern schien giftiger Brodem zu strömen. Hinter der dünnen Haut bewegte sich etwas, und dann hob der Ankömmling auch seine Hände. Er hatte die Arme bisher nach unten gestreckt gehabt, nun drückte er sie hoch und brachte die Hände sichtbar vor Toms Gesicht.
Auch sie hatten sich dem Gesicht angeglichen. Sie waren nicht lang und kräftig. Kurz, speckig, beinahe wie Stummel, die zudem noch zuckten und Tom an weiße Würmer erinnerten. Die Nägel waren kaum zu erkennen, nur leicht glänzende Striche auf den Fettfingern.
Noch berührten sie ihn nicht, aber Tom ekelte sich jetzt schon vor einem Kontakt. Er war ein Mensch, der sich eigentlich zu wehren wußte. In diesem Fall hatte ihn eine Lähmung überfallen, für die er kaum eine Erklärung hatte.
So klein die Finger auch waren, Tom glaubte fest daran, daß eine große Kraft in ihnen steckte. Wenn sie sich einmal um seinen Hals gelegt hatten, würden sie es auch schaffen, durch die Haut zu dringen und sie zu durchstoßen wie stumpfe Dolche.
»Jericho!«
Ein Wort nur, von einer Stimme gesprochen, aber nicht von der Stimme des Todesengels.
Der nämlich schnellte hoch und drehte sich gleichzeitig auf der Stelle. Er schaute zurück. Das Gesicht veränderte sich blitzartig und nahm wieder die frühe Form an.
Es schaute dorthin, wo der Träger und die Plattform des Aufzugs zusammenliefen. Dort stand ein Mann.
Sein Haar war lang und im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Dabei glänzte es wie dunkles Öl. Irgendwie hatte sich auch die Gesichtshaut der Haarfarbe angepaßt. Die Lippen lagen aufeinandergepreßt, so daß der Mund kaum zu erkennen war.
Der Mann trug eine bequeme Jacke, die in Höhe der Taille von einem
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