Frostblüte (German Edition)
erinnern konnte. Und solange ich denken konnte, hatte Ma sie gehasst. Sie hasste es, als die Dorfbewohner mich ihretwegen »Frost« zu nennen begannen. Sie war die Einzige, die mich weiterhin bei meinem wirklichen Namen rief, Saram.
Saram bedeutete ›Kummer‹. So wollte sie mich genannt wissen.
Ich griff unter mein Hemd und zog das Lederband heraus, das ich um den Hals trug. Daran hing ein scharfer, krummer Zahn, so groß wie mein Zeigefinger und von feinen gelbbraunen Linien durchzogen. Ein Wolfszahn. Ein Zahn des Wolfes, der Garin Aeskaar getötet hatte. Meinen Vater.
Als ich noch ein Kind war, bevor ich so groß und ungeschickt wurde wie mein Dad und Mas Temperament so unberechenbar, hatte ich sie viele Male nach der Narbe in meinem Gesicht gefragt. Seit wann hatte ich sie? Wie war es passiert? Sie antwortete mir nur ein einziges Mal. Sie sagte: »Das war ein Wolf.«
Und als ich fragte: »Welcher Wolf?«, sagte sie: »Der Dämonenwolf.«
Damals hat sie mich zum ersten Mal geschlagen.
Mein Vater und der Dämonenwolf hatten einander vor meiner Geburt umgebracht. Der Wolf konnte mich unmöglich gebissen haben. Doch aus dem gleichen Grund, aus dem ich seinen Zahn um den Hals trug, gefiel es mir, so zu tun, als hätte er mich tatsächlich gebissen. Auf diese Weise fühlte ich mich meinem Vater näher. Manchmal stellte ich mir vor, wie sich alles entwickelt hätte, wenn ihn der Wolf nicht getötet hätte; wenn meine Mutter nicht das Haus meines Vaters im Norden verlassen hätte – wo die grauen Augen, die ich von ihm geerbt hatte, nicht aufgefallen wären –, und wenn sie nicht in dieses Dorf gezogen wäre, wo die Leute tuschelten und mir Seitenblicke zuwarfen. Vor allem stellte ich mir jedoch vor, dass ich eines Tages stark genug sein würde, um seine große Axt mit der Doppelklinge von ihrem Platz über der Feuerstelle zu nehmen.
Eines Tages würde ich so stark sein wie mein Vater.
Meine Finger umklammerten den Zahn und es gefiel mir, wie scharf er war. Eines Tages würde mich niemand mehr schlagen.
»Oh, sieh an! Da kommt Frostauge!«
Ich stöhnte leise und stopfte den Zahn wieder unter mein Hemd . Ulem Gallen.
»Was tust du hier draußen, Vaterlose?« Als ich die zweite Stimme hörte, bekam ich wirklich Angst. Das war Marik Ersk, Ulems bester Freund. »Wer hat dir erlaubt, in unseren Wald zu kommen?«
Ich stand auf und drehte mich zu ihnen, mein Blut kribbelte. Ulem allein war schon schlimm genug, aber er war wenigstens träge und dumm und langweilte sich schnell. Bei Marik sah das anders aus. Seit es uns letzten Winter nicht gelungen war, seine Mutter vor dem Fieber zu retten, hasste er Ma und mich. Ihr konnte er nichts anhaben – doch er hatte sich angewöhnt, auf mich Jagd zu machen, wenn er mit Ulem zusammen war, was mir ein blaues Auge, herausgerissene Haare, zerschrammte Schienbeine und zerfetzte Kleider eingetragen hatte. Es gab nichts, was ich dagegen tun konnte. Ulems Vater war der Dorfälteste. Niemand würde gegen ihn für mich Partei ergreifen.
Sie kamen von der anderen Seite der Lichtung auf mich zu. Ich schluckte und suchte nach einer Lücke zwischen den Bäumen.
»Verschwindet«, sagte ich. Ich wollte, dass die Worte energisch und zornig herauskamen, doch sie klangen dünn und schwach. Ich versuchte es noch einmal. »Lasst mich in Frieden!«
»Hör dir das an!«, sagte Marik höhnisch. »Sie erteilt uns Befehle. Wir brauchen nicht zu tun, was uns ein dummes, vaterloses Mädchen sagt. Du bist nichts. Keiner muss auf dich hören.«
Ulem lachte. Es war ein gemeines, dumpfes Lachen, das seine Wangen hässlich rötete. Seine kleinen Augen glänzten vor Aufregung. »Dein Dad ist bloß gestorben, um nicht bei dir sein zu müssen! Selbst deine Mutter nennt dich Saram. Keiner will dich, Frostauge.«
»Vielleicht sollten wir uns allen einen Gefallen tun und sie beseitigen«, flüsterte Marik, während er langsam näher kam.
Ich konnte Mas Stimme in meinem Kopf zischen hören: Kämpf nicht gegen sie. Reize sie nicht. Bleib ruhig. Geh ihnen aus dem Weg. Wir dürfen die Ältesten nicht gegen uns aufbringen. Sei ein braves Mädchen und halt dich raus.
Wie, Ma? Wie soll ich jetzt hier wegkommen, ohne zu kämpfen?
Ich holte tief Luft, drehte mich zu Marik – und rannte los. Ich drängte mich an ihm vorbei, stieß die Hand weg, die mich hinten am Hemd zu packen versuchte, und raste einen flachen Abhang hinunter. Sie schrien wütend hinter mir her. Einen Augenblick lang dachte ich, ich wäre
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