Frostfeuer
Schneefällen heimgesucht wurde.
»Hast du ihn dabei?«, fragte er unvermittelt. »Den Herzzapfen der Schneekönigin?«
Sie nickte, machte aber keine Anstalten, ihn unter ihrem Mantel hervorzuziehen. Sie spürte seine Kälte an ihrer Brust. Je länger sie ihn bei sich trug, desto schmerzlicher war die Vorstellung, sich wieder davon trennen zu müssen.
»Ich will ihn nicht«, sagte der alte Mann. »Ich weiß, dass du deshalb hergekommen bist.«
Sie schloss für einen Moment die Augen, enttäuscht, verzweifelt. »Wem sonst könnte ich ihn geben?«
»Für wen hast du ihn denn gestohlen?«
»Mein Vater und ich sind vor ein paar Monaten von einer Gruppe Revolutionäre angeheuert worden, oben im Reich der Königin. Sie planen seit Jahren einen Umsturz. Sie wussten, dass nur jemand wie mein Vater das … Talent besitzt, die Macht der Königin zu brechen.«
»Oder jemand wie du. Menschen mit ganz besonderen Fähigkeiten.«
Sie lächelte zum ersten Mal, seit sie neben ihm Platz genommen hatte. »Im Vergleich zu ihm bin ich nur ein Kind.«
»Ja. Sein Kind.«
Ihr Lächeln wurde für einen Augenblick breiter. Dann verfinsterten sich ihre Züge wieder. »Ich hatte so gehofft, dass du mir den Zapfen abnimmst. Mir fällt niemand sonst ein, dem ich ihn anvertrauen könnte.«
Der Alte schüttelte den Kopf. »Er würde mich verderben. So, wie er die Seele eines jeden vereist, der ihn zu lange bei sich trägt.« Ein Funkeln war plötzlich in seinen Augen, vielleicht war es Argwohn, vielleicht etwas ganz anderes. »Du magst Recht damit haben, dass du ihn loswerden musst. Aber es gibt nur eine einzige Möglichkeit.«
Sie runzelte die Stirn. »So?«
»Bring ihn ihr zurück.«
Tamsin presste die Lippen aufeinander. Sie waren trocken und rissig von der bitteren Kälte. »Niemals«, sagte sie nach einem Augenblick.
»Aber du hast selbst schon daran gedacht, nicht wahr?«
»Nein«, log sie. »Mein Vater ist bei dem Versuch gestorben, ihn zu stehlen. Die Schneekönigin hat … sie hat ihn getötet.« Master Spellwells Körper war im Palast der Tyrannin zurückgeblieben; dort stand er als vereiste Statue in einem der zahllosen Eisdome, wo nur die Stille ihm Gesellschaft leistete.
Tamsins Unterlippe zuckte. »Lieber soll es mir ergehen wie ihm, als dass ich ihr den Zapfen freiwillig zurückgebe.«
Väterchen Frost lächelte milde und schob seine zitternde Rechte über ihre Hände. »Das sind tapfere Worte, Tamsin Spellwell. Wir sind uns nur einmal begegnet, und da warst du noch ein kleines Mädchen. Aber dein Vater hat schon damals gesagt, dass du großen Mut hast.«
»Bitte«, sagte sie eindringlich, »verwahr du den Zapfen.«
»Niemals.« Er zog seine Hand zurück und strich sich über den weißen Bart. »Dies ist jetzt allein dein Kampf. Und deine Entscheidung. Sag mir, wie alt bist du jetzt?«
»Fünfundzwanzig.«
»Du siehst jünger aus.«
»Kann das jemand beurteilen, der älter ist als die Berge und Wälder?«
Sein Lachen klang wie geraspeltes Eis. »Vielleicht nicht. Aber nimm trotzdem einen Rat von einem alten Narren an. Gib ihr den Zapfen zurück, bevor sie dich vernichtet. Was geht dich ihr Reich an – oder die Menschen, die dort in Knechtschaft leben?«
Tamsin schüttelte abermals den Kopf. Ihr Entschluss stand fest. Plötzlich war neue Kraft in ihr, flackerte empor wie Flammen aus kalter Kaminasche. »Du weißt, dass es nicht um ihr Reich geht. Nicht mehr.« Sie schwieg einen Moment. »Ist sie schon hier? In Sankt Petersburg?«
Er nickte. »Diesen Schnee hat sie mitgebracht. Die Flocken werden redselig, wenn man sie füttert.«
»Wo hält sie sich auf?«
Er sagte es ihr.
Tamsin rückte den zerknitterten Zylinder zurecht und erhob sich von der Bank.
»Was hast du jetzt vor?«, fragte er.
»Ich sorge dafür, dass sie mich findet.«
»Und dann?«
»Nun – ich werde meinen Auftrag zu Ende bringen. Das ist das, was meine Familie schon seit vielen Generationen tut.«
»Und Rache nehmen für den Tod deines Vaters?« Er klang enttäuscht.
Tamsin nahm Regenschirm und Koffer, blieb aber vor ihm stehen. »Sie will den Herzzapfen zurück. Und sie weiß, dass nur ich ihn ihr geben kann. Also wird sie zu mir kommen.«
»Du willst ihr eine Falle stellen?«
Tamsin gab keine Antwort.
»Was für eine dumme, dumme Idee«, sagte er.
»Gehab dich wohl«, wünschte sie ihm zum Abschied.
»Warte!«
Sie wandte das Gesicht zu Boden, dann sah sie ihn an.
»Du solltest noch etwas wissen.« Er stieß einen tiefen
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