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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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erfüllte sie stets mit Unbehagen.
    Nachdem Maxim die Gittertür geschlossen hatte, stellte sie sich neben ihn, damit sie ihm nicht in die Augen sehen musste. Aber vor lauter Aufregung – und sie war noch immer ein wenig atemlos von ihrer Flucht – hatte sie die Spiegel an den Wänden der Kabine vergessen. Wohin sie auch blickte, aus allen Richtungen schien der blonde Liftjunge sie anzusehen.
    Maus hasste Spiegel. Sie war zu klein und dünn für ihr Alter, und wenn sie sich so anschaute, war wirklich nicht viel Mädchenhaftes an ihr. Sie war blass, sogar bei diesem Licht, das jeden anderen Menschen gesund aussehen ließ; selbst ihre Lippen kamen ihr farblos und schmal vor. Ihre dunkelblauen Augen wirkten stets ein wenig müde, vielleicht, weil sie immer müde war. Der Concierge, der allen niederen Hotelbediensteten vorstand, hatte festgelegt, dass sie wie ein Junge auszusehen hatte, sonst würden die feinen Gäste es vielleicht übel nehmen, dass man sie die ganze Nacht hindurch schuften ließ. Das war schon so gewesen, als sie noch sehr klein war, daher kannte sie es nicht anders. Maus, der Mädchenjunge.
    Der Lift setzte sich mit einem Ruckeln in Bewegung. Über ihnen im Schacht fauchte das Dampfgetriebe. Mächtige Zahnräder knirschten.
    »Das ist eine schöne Uniform«, sagte sie, weil das verlegene Schweigen sie ganz zappelig machte.
    »Danke«, sagte Maxim, und nun tastete sein Blick ihre eigene Kleidung ab.
    Das hast du nun davon, dachte sie bitter. Er wird sofort sehen, dass ich die Schulterstücke mit Teppichfransen ausgebessert habe.
    »Möchtest du auch so eine?«, fragte er.
    Sie konnte ihm noch immer nicht in die Augen sehen.
    »So eine?«, wiederholte sie unsicher.
    »Eine Uniform wie meine.«
    »Ich bin kein Liftjunge.« Und werde auch nie einer sein, setzte sie im Stillen hinzu, weil nämlich der Concierge keine Mädchen mag, nicht mal, wenn sie wie Jungen aussehen.
    »Das macht doch nichts. Ich bin im letzten Jahr fast einen Kopf gewachsen. Du kannst eine von meinen alten haben.«
    »Das ist nicht dein Ernst!«
    »Warum nicht? In meiner Kiste fressen sie doch nur die Motten.«
    Schwer vorzustellen, dass es in den Schlafräumen der Pagen und Liftjungen Motten gab. In dem Kellerloch, in dem Maus schlief, gab es sogar Ratten. Aber das störte sie nicht. Sie mochte so ziemlich alles, was klein war und am Boden kroch.
    »Nun?«, fragte Maxim.
    Der Lift kam zum Stehen. Vor dem Gitter der Kabine lag jetzt ein Korridor, der nur unmerklich weniger prachtvoll wirkte als jener in der Suitenetage. Alles im Hotel Aurora war edel, kostbar und elegant. Abgesehen vom Benehmen mancher Angestellter, wenn kein Gast zugegen war.
    In einiger Entfernung wartete Maus’ Schuhwagen, ein stählernes Regal auf vier Rädern.
    »Du würdest sie mir einfach so geben?«, fragte sie zweifelnd.
    Er strahlte wie das Goldimitat an den Wänden. »Ich kann doch eh nichts damit anfangen.«
    »Ich hab kein Geld.«
    »Ich will sie dir ja auch schenken.«
    Er mag dich nicht, gemahnte sie ihre innere Stimme. Niemand hier mag dich.
    »Einverstanden!«, platzte sie heraus. Ihr Herz raste schon wieder genauso schnell wie vorhin, als der Rundenmann sie gepackt hatte. Nur dass der Grund jetzt ein besserer war.
    »Also dann«, sagte Maxim, trat mit ihr auf den Gang, verschloss das Gitter von außen mit einem Schlüssel und befestigte daran ein Metallschild mit der Aufschrift Außer Betrieb. Maus fand das ziemlich mutig. Aber vermutlich konnte sich jemand wie Maxim solche Eskapaden erlauben.
    Maus folgte ihm den Flur hinunter, zu einer Tür, deren Aufschrift darauf verwies, dass hier nur Hotelpersonal Zugang hatte. Dahinter lag ein ungleich engerer, dunklerer Gang, der zu den Schlafräumen der Bediensteten führte. Keine Teppiche, keine Bilder an den Wänden. Rohre lagen hier offen über dem Putz, nicht hinter Holztäfelungen.
    Maxim ging mit Maus bis ans Ende eines Korridors. Dort befand sich ein Notausgang, eine schwere Tür mit Eisenriegel; Maus hatte keine Vorstellung von dem, was dahinter lag. Sie kannte das Äußere des Hotels lediglich von dem Gemälde im Tanzsalon, und dort war nur die glanzvolle Fassade am Newski Prospekt zu sehen, nicht aber die Rückseite oder andere Trakte des Gebäudes.
    »Warte hier«, sagte Maxim. Rechts und links des Flurs befanden sich die Türen der Schlafsäle. Je sechs Männer mussten sich ein Zimmer teilen. Die Räume der weiblichen Bediensteten lagen ein Stockwerk tiefer.
    Maus nickte ihm zu, als er mit

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