Frühe Erzählungen 1893-1912
Aschenbach zur Rettung aufspringen, als der Gewalttätige endlich sein Opfer freigab. Tadzio, sehr bleich, richtete sich zur Hälfte auf und saß, auf einen Arm gestützt, mehrere Minuten lang unbeweglich, mit verwirrtem Haar und dunkelnden Augen. Dann stand er vollends auf und entfernte sich langsam. Man rief ihn, anfänglich munter, dann bänglich und bittend; er hörte nicht. Der Schwarze, den Reue über seine Ausschreitung sogleich erfaßt haben mochte, holte ihn ein und suchte ihn zu versöhnen. Eine Schulterbewegung wies ihn zurück. Tadzio ging schräg hinunter zum Wasser. Er war barfuß und trug seinen gestreiften Leinenanzug mit roter Schleife.
Am Rande der Flut verweilte er sich, gesenkten Hauptes, mit einer Fußspitze Figuren im feuchten Sande zeichnend, und ging dann in die seichte Vorsee, die an ihrer tiefsten Stelle noch nicht seine Knie benetzte, durchschritt sie, lässig vordringend, und gelangte zur Sandbank. Dort stand er einen Augenblick, das Gesicht der Weite zugekehrt, und begann hierauf, die lange und schmale Strecke entblößten Grundes nach links hin langsam abzuschreiten. Vom Festlande geschieden durch breite Wasser, geschieden von den Genossen durch stolze Laune, wan {592} delte er, eine höchst abgesonderte und verbindungslose Erscheinung, mit flatterndem Haar dort draußen im Meere, im Winde, vorm Nebelhaft-Grenzenlosen. Abermals blieb er zur Ausschau stehen. Und plötzlich, wie unter einer Erinnerung, einem Impuls, wandte er den Oberkörper, eine Hand in der Hüfte, in schöner Drehung aus seiner Grundpositur und blickte über die Schulter zum Ufer. Der Schauende dort saß, wie er einst gesessen, als zuerst, von jener Schwelle zurückgesandt, dieser dämmergraue Blick dem seinen begegnet war. Sein Haupt war an der Lehne des Stuhles langsam der Bewegung des draußen Schreitenden gefolgt; nun hob es sich, gleichsam dem Blicke entgegen, und sank auf die Brust, so daß seine Augen von unten sahen, indes sein Antlitz den schlaffen, innig versunkenen Ausdruck tiefen Schlummers zeigte. Ihm war aber, als ob der bleiche und liebliche Psychagog dort draußen ihm lächle, ihm winke; als ob er, die Hand aus der Hüfte lösend, hinausdeute, voranschwebe ins Verheißungsvoll-Ungeheure. Und, wie so oft, machte er sich auf, ihm zu folgen.
Minuten vergingen, bis man dem seitlich im Stuhle Hinabgesunkenen zu Hilfe eilte. Man brachte ihn auf sein Zimmer. Und noch desselben Tages empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tode.
Anhang
{593} Editorische Nachbemerkung
Das klassische Editionsprinzip lautet: zurück zum Erstdruck! Nur dort finde sich die authentische Äußerung des Autors, ehe sich bei einer Überarbeitung das Werkkonzept verschiebt und das kalte Konstruieren Änderungen in eine Richtung vornimmt, die dem ursprünglichen Wurf fremd ist. Bekanntlich hat Goethes Revision seiner frühen Gedichte, fünfzehn Jahre nach deren Entstehung durchgeführt, die innere Form und den emotionalen Tenor manchmal empfindlich gestört. Je größer der zeitliche Abstand zwischen Erst- und Neufassung, desto mehr wird diese zur Schöpfung eines anderen Menschen. Entstehung ist hier zur Hälfte schon Selbstrezeption.
Gegen die Wahl des Erstdrucks als Textvorlage für die vorliegende Ausgabe sprechen jedoch sowohl der Entstehungsprozess als auch die Druckgeschichte dieser fünfundzwanzig frühen Erzählungen. Bei fast allen folgte nämlich dem Erstdruck in Zeitschriften eine Buchausgabe auf dem Fuße: den in den späten neunziger Jahren geschriebenen Novellen der Sammelband
Der kleine Herr Friedemann
von 1898 sowie den nach der Jahrhundertwende geschriebenen der Sammelband
Tristan
von 1903. Gleichsam noch im selben Anlauf hat Thomas Mann an seinen Texten weitergearbeitet: Im Licht des Erstdrucks besehen, konnte ihm so manches Detail sofort als verbesserungsbedürftig erscheinen. Die Entscheidungen, die er damals getroffen hat, entsprechen dem Geist der ursprünglichen Konzeption, die Jagd auf genaue Formulierung setzte sich fort. Die Erstveröffentlichung in einer Zeitschrift bildete nur eine äußerliche Station im schöpferischen Fluss, jenem »motus animi continuus«, wie es im
Tod in Venedig
heißt, bei dem der Autor noch voll und ganz mittendrin ist.
{594} Ein eminentes Beispiel bietet die Entstehung des
Tod in Venedig
selbst. Bereits fertige Textteile der noch in Arbeit befindlichen Novelle, an denen ein bibliophiler Verlag bereits druckte, wurden für den Erstdruck in der
Neuen
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