Frühe Erzählungen 1893-1912
erschienenen Buchausgaben zugrunde legte, denn auch verlagsintern herrschten von Band zu Band divergierende Usancen und Stilmoden. Beim
Kleinen Herrn Friedemann
von 1898 gab man sich hypermodern: In Antiqua gesetzt, weist der Text kein scharfes ›s‹ (ß) auf – es heißt nicht nur »dass«, sondern auch »süss«. Statt gewöhnlichen Anführungszeichen {599} („ “) benutzte man andernorts bei direkter Rede französische (»). In unterteilten Erzählungen wie der Titelgeschichte oder
Der Bajazzo
setzte man über den Textabschnitten aufdringliche römische Ziffern. Auch wurden Ziffern bei Uhrzeiten u. dgl. verwandt – »um 11 Uhr« statt »um elf Uhr«. Fünf Jahre später hingegen war man beim
Tristan
-Band von 1903 zur Fraktur zurückgekehrt, mit scharfem ›s‹ und weiteren Änderungen, war auch ausgerechnet darauf verfallen, alle umgelauteten Anfangsvokale mit ›e‹ zu schreiben: »Aermel«, »Oede«, »Ueberfluß«. Bei unterbrochenen Reden der Personen wurde, anders etwa als bei S. Fischers Erstausgabe von
Buddenbrooks
(vgl. GKFA 1.1, passim) das Komma vor den Abführungszeichen eingefügt (»Ich hatte es nämlich nicht vergessen, Tonio,« sagte Hans.).
Dies alles hat – ebenso wenig wie die diskrepanten Zeitschriftenpraktiken – mit Thomas Manns Schreibweise zu tun, außer dass es in beredter Weise belegt, wie sehr die ästhetische Bedeutung der Interpunktion redaktionell unterschätzt zu werden tendiert, als gehörten solche Nuancen nicht wesentlich zu der vom Autor gewollten Wirkung. Ein junger Autor traut es sich wohl nicht zu, seine Gewohnheiten gegen den ›Hausstil‹ durchsetzen zu wollen. Andererseits wird später der etablierte Autor bei Neuauflagen überhaupt nicht Korrektur gelesen und es wahrscheinlich nicht einmal gemerkt haben, wenn man ihm eines seiner stilistischen Merkmale wegkorrigiert hat. Zum Beispiel hat man 1922 bei der ersten Gesamtausgabe von Thomas Manns Schriften den durch drei Pünktchen erreichten ›weichen Ausklang‹, der ein bewusst intendierter Effekt der frühen Prosa ist, völlig ausgeräumt und durch Gedankenstrich plus Punkt oder durch einen Einzelpunkt ersetzt (vgl. den Kommentar zu Textband S. 11). Ebenso gravierend an dieser überhaupt energisch durchgreifenden Edition ist, dass bei längeren Novellen –
Der kleine Herr
Friedemann
,
Der Bajazzo
,
Tristan
,
{600} Tonio Kröger
,
Der Tod in Venedig
–
die Unterteilung in bezifferte Kapitel ganz abgeschafft wurde. Hauptsache: Den Text, wie er in den beiden recht divergenten frühen Sammelbänden steht, nachdrucken zu wollen würde also lediglich ein Stück Verlagsgeschichte bilden. Wer sich dafür interessiert, kann immer zu den Erstausgaben greifen.
Wie erarbeitet man aber, wenn dem so ist, eine sowohl einigermaßen authentische als auch konsequente Textgestalt? Man kann nur auf die Handschriften zurückgreifen. Nicht etwa, um alle Texte von Grund auf neu zu konstituieren – dazu fehlt weitgehend die handschriftliche Basis –, sondern einfach, um die mannigfaltigen Redaktionswillkürlichkeiten möglichst durch die nachweisbare Praxis des Autors zu ersetzen. Diese bleibt sich in den erhaltenen Handschriften wohltuend gleich. Sie war grundsätzlich konservativer Natur: Thomas Mann schrieb deutsche Schrift und hielt sich an die alte Orthographie. Nun kann freilich nicht davon die Rede sein, die sämtlichen Textzeugen zeitlich pauschal zurückzuversetzen und in eine Orthographie zu kleiden, in der sie nie gedruckt vorgelegen haben. Auch die kleinen Idiosynkrasien Thomas Manns – »garnicht«, »mirselbst«, »bischen«, »sodaß« – sollen nicht wieder eingesetzt werden. Es gilt nur, die auf Thomas Mann nicht zurückgehenden Diskrepanzen zwischen verschiedenen redaktionell bestimmten Druckspiegeln auszugleichen. In nicht unwichtigen Nebenfragen kann man aus dem schmalen Handschriftenkorpus gelegentlich einen Fingerzeig erhalten: arabische Ziffern bei Kapitelanfängen, Uhrzeiten als Wort, nicht Ziffer, Komma nach Abführungszeichen. Auch so bleiben von einer Gruppe Erzählungen zur anderen Unterschiede: Hier »Thür« und »That«, dort »Tür« und »Tat«; hier »Du«, »Dich« usw. groß, dort »du«, »dich« usw. klein; hier »alles« klein, dort »Alles« groß. Wir haben kurze Zeit mit dem {601} Gedanken geliebäugelt, »Alles« durchweg groß zu schreiben, weil es Thomas Manns Praxis war – und sieht sich »Alles« nicht eine Spur umfassender an als »alles«? So bietet die vorliegende
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