Frühe Erzählungen 1893-1912
dann nur scheinbar gelingen konnte …
»Ich habe jetzt etwas Wundervolles gelesen, etwas Prachtvolles …« sagte er. Sie gingen und aßen gemeinsam aus einer Düte Fruchtbonbons, die sie bei Krämer Iwersen in der Mühlenstraße für zehn Pfennige erstanden hatten. »Du mußt es {250} lesen, Hans, es ist nämlich Don Carlos von Schiller … Ich leihe es dir, wenn du willst …«
»Ach nein«, sagte Hans Hansen, »das laß nur, Tonio, das paßt nicht für mich. Ich bleibe bei meinen Pferdebüchern, weißt du. Famose Abbildungen sind darin, sage ich dir. Wenn du mal bei mir bist, zeige ich sie dir. Es sind Augenblicks-Photographien, und man sieht die Gäule im Trab und im Galopp und im Sprunge, in allen Stellungen, die man in Wirklichkeit gar nicht zu sehen bekommt, weil es zu schnell geht …«
»In allen Stellungen?« fragte Tonio höflich. »Ja, das ist fein. Was aber Don Carlos betrifft, so geht das über alle Begriffe. Es sind Stellen darin, du sollst sehen, die so schön sind, daß es einem einen Ruck giebt, daß es gleichsam knallt …«
»Knallt es?« fragte Hans Hansen … »Wieso?«
»Da ist zum Beispiel die Stelle, wo der König geweint hat, weil er von dem Marquis betrogen ist … aber der Marquis hat ihn nur dem Prinzen zu Liebe betrogen, verstehst du, für den er sich opfert. Und nun kommt aus dem Kabinett in das Vorzimmer die Nachricht, daß der König geweint hat. ›Geweint?‹ ›Der König geweint?‹ Alle Hofmänner sind fürchterlich betreten, und es geht einem durch und durch, denn es ist ein schrecklich starrer und strenger König. Aber man begreift es so gut, daß er geweint hat, und mir thut er eigentlich mehr leid, als der Prinz und der Marquis zusammengenommen. Er ist immer so ganz allein und ohne Liebe, und nun glaubt er einen Menschen gefunden zu haben, und der verrät ihn …«
Hans Hansen sah von der Seite in Tonios Gesicht, und irgend etwas in diesem Gesicht mußte ihn wohl dem Gegenstande gewinnen, denn er schob plötzlich wieder seinen Arm unter den Tonios und fragte:
»Auf welche Weise verrät er ihn denn, Tonio?«
Tonio geriet in Bewegung.
{251} »Ja, die Sache ist«, fing er an, »daß alle Briefe nach Brabant und Flandern …«
»Da kommt Erwin Jimmerthal«, sagte Hans.
Tonio verstummte. Möchte ihn doch, dachte er, die Erde verschlingen, diesen Jimmerthal! Warum muß er kommen und uns stören! Wenn er nur nicht mit uns geht und den ganzen Weg von der Reitstunde spricht … Denn Erwin Jimmerthal hatte ebenfalls Reitstunde. Er war der Sohn des Bankdirektors und wohnte hier draußen vorm Thore. Mit seinen krummen Beinen und Schlitzaugen kam er ihnen, schon ohne Schulmappe, durch die Allee entgegen.
»Tag, Jimmerthal«, sagte Hans. »Ich gehe ein bißchen mit Kröger …«
»Ich muß zur Stadt«, sagte Jimmerthal, »und etwas besorgen. Aber ich gehe noch ein Stück mit euch … Das sind wohl Fruchtbonbons, die ihr da habt? Ja, danke, ein paar esse ich. Morgen haben wir wieder Stunde, Hans.« – Es war die Reitstunde gemeint.
»Famos!« sagte Hans. »Ich bekomme jetzt die ledernen Gamaschen, du, weil ich neulich die Eins im Exercitium hatte …«
»Du hast ja wohl keine Reitstunde, Kröger?« fragte Jimmerthal, und seine Augen waren nur ein Paar blanker Ritzen …
»Nein …« antwortete Tonio mit ganz ungewisser Betonung.
»Du solltest«, bemerkte Hans Hansen, »deinen Vater bitten, daß du auch Stunde bekommst, Kröger.«
»Ja …« sagte Tonio zugleich hastig und gleichgültig. Einen Augenblick schnürte sich ihm die Kehle zusammen, weil Hans ihn mit Nachnamen angeredet hatte; und Hans schien dies zu fühlen, denn er sagte erläuternd:
»Ich nenne dich Kröger, weil dein Vorname so verrückt ist, du, entschuldige, aber ich mag ihn nicht leiden. Tonio … Das ist doch überhaupt kein Name. Übrigens kannst du ja nichts dafür, bewahre!«
{252} »Nein, du heißt wohl hauptsächlich so, weil es so ausländisch klingt und etwas Besonderes ist …« sagte Jimmerthal und that, als ob er zum Guten reden wollte.
Tonios Mund zuckte. Er nahm sich zusammen und sagte:
»Ja, es ist ein alberner Name, ich möchte, weiß Gott, lieber Heinrich oder Wilhelm heißen, das könnt ihr mir glauben. Aber es kommt daher, daß ein Bruder meiner Mutter, nach dem ich getauft worden bin, Antonio heißt; denn meine Mutter ist doch von drüben …«
Dann schwieg er und ließ die beiden von Pferden und Lederzeug sprechen. Hans hatte Jimmerthal untergefaßt und redete
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