Starke Frau, was nun?
1. Lisa
Auf dem Rad durch Berlins Prenzlauer Berg.
Das ist eine Erfahrung, die man mal gemacht haben muss, sonst hat man nicht gelebt. Denkt sich Lisa zumindest, während sie mit ihrem formschönen Drahtesel, Baujahr schätzungsweise 1920, die Straße entlangrattert. Klar gibt es Fahrradwege, doch die emanzipierte Frau von heute missachtet diese konsequent und macht sich stattdessen einen Spaß daraus, die Autofahrer zu provozieren, die jeden Tag aufs Neue so dämlich sind, sich zweimal (morgens und abends) den endlosen Stau anzutun.
Allerdings sollte man sich für diesen Stunt entsprechend präparieren: Zu Strickmütze und dem giftgrünen Schal hat sich seit Neuestem auch eine Atemschutzmaske gesellt – ähnlich den häufig genutzten Accessoires in China und Japan, nur ästhetischer, weil farblich passend zu Hals- und Kopfbedeckung.
Die Vermummung hat übrigens noch einen weiteren Vorteil, überlegt sie, als sie einen eleganten Schlenker vor einer S-Klasse hinlegt, um sich an einer roten Ampel in die Pole Position zu bringen: Man kann später nicht identifiziert werden.
Mit stoischer Ruhe ignoriert sie das dröhnende Hupkonzert des umweltverpestenden PS-Monsters in ihrem Rücken, bis die Lichtanlage umschaltet. Erst jetzt dreht sie sich um, schaut dem vierzigjährigen Banker (so wirkt er jedenfalls in seinem schmucken Anzug) tief in die dunklen Pupillen und zeigt ihm grinsend den Stinkefinger.
Okay, das Grinsen hat er nicht gesehen, den Finger allerdings schon. Nun heißt es: Treten, bis die Reifen qualmen!
Ist er eher der ignorante Typ, verfolgt er sie nicht; gehört er aber zu den Cholerikern unter den Kerlen – Marke entnervter Manager –, könnte es etwas brenzlig werden.
Die junge Frau tritt in die Pedalen, als ginge es um ihr Leben; dabei lehnt sie sich über den altmodisch geformten Lenker, ihr Hintern mit dem knappen Strickrock hebt sich gleich ganz vom Sattel und jagt davon. Auf dem uralten Kopfsteinpflaster bedeutet das einmal Durchschütteln gratis. Total entspannende Massage.
An der nächsten Straßenecke wagt sie einen flüchtigen Blick über die Schulter und verzieht enttäuscht das Gesicht.
Mehr als ein erbostes Starren hat er nicht zu bieten und nebenbei scheint er zu beten oder so was, denn seine Lippen bewegen sich unaufhörlich ...
Was hätte sie gern diskutiert – zehn bis zwanzig Minuten bleiben ihr nämlich noch. Wie an jedem zweiten Nachmittag ist sie mit Robert verabredet und inzwischen nur geringfügig überfällig. Bedeutet: Um ihn nicht zu enttäuschen, darf sie frühestens in einer Viertelstunde aufkreuzen, sonst bringt sie den armen Mann ernsthaft durcheinander. Wer Lisa kennt, der weiß, dass sie Pünktlichkeit ebenso verabscheut wie Fleisch jeglicher Art – einschließlich Fisch!
Nicht wie diese weichgespülten Freizeitvegetarier, die sich anhaltend erfolgreich einreden, Meeresbewohner hätten kein Fleisch auf den Gräten, schließlich stamme das Zeug aus dem Wasser. Nein, nicht darüber nachdenken; es ist so blöde, wie es klingt! Leider halten Millionen elender Tiermörder tapfer an dieser Mär fest.
Lisa drosselt das Tempo, bis sie sich nur noch in Schrittgeschwindigkeit fortbewegt. Was selbstverständlich wieder den blöderweise nicht diskussionsfreudigen Banker hinter seinem Superteuer-Lenkrad weckt. Der hämmert nämlich ohne Unterbrechung auf seinem akustischen Warnmelder herum.
Vielleicht ist er ja doch cholerisch veranlagt; für so eine fantasielose Reaktion hat Lisa aber nur ein Schulterzucken übrig. Wenn es nach ihr geht, besitzt kein Fahrzeug, das mit einem Verbrennungsmotor angetrieben wird, eine Daseinsberechtigung. Die Dinger verpesten die Luft und zwingen sie, sich diese verdammte Atemschutzmaske aufzusetzen!
Hallo?
Wenn sich dieser verheerende Trend fortsetzt, wird sie demnächst auf Gasmasken umsteigen müssen!
* * *
Obwohl sie fast in Zeitlupe fährt, hat Lisa nach einer weiteren Minute die Straße erreicht, in der Robert wohnt. Beim rasanten Abbiegen rammt sie beinahe einen älteren Mann, der so dämlich ist, nicht darauf zu achten, wo er entlangläuft. Er wirkt sichtlich erschrocken. »Pass doch auf, Mädchen!«
Sie nickt. »Dito!«, und ist im nächsten Moment verschwunden.
Als er ihr die Tür öffnet, ist Robert tatsächlich überrascht. »Hey, du bist schon da!« Lächelnd zieht er sie in seine Arme und küsst ihre vollen Lippen, bevor er sie an der Hand durch die uralte Berliner Altbauwohnung in sein Schlafzimmer führt. Viel gibt es
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