Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
Alte nickt. Sein Gesicht ist sehr ruhig. »Ich weiß. Ich wollte es Ihnen bloß sagen.«
Aus, denkt Straff, als er weitergeht. Aus, Schluß. Sollten die westlichen Flugzeuge wegen des diesigen Wetters ausbleiben, so wimmelt es in der Ostsee von russischen U-Booten. Sollten diese den dicken Pott verschlafen, so muß die ›Cap Arcona‹ durch Hunderte von Magnetminen hindurch, von denen jede das Ende des Schiffes bedeuten kann.
Und kein einziges einsatzbereites Rettungsboot!
Endlich wird der Anker gelichtet. Die schweren Glieder der riesigen Kette rasseln wie ein Steinschlag. Die Flüchtlinge an Oberdeck fahren entsetzt auseinander, als würde die Stahlhaut ihres Potts schon von einem russischen Torpedo zerfetzt.
Gleich beginnt wieder die Völkerwanderung auf dem lichtlosen Sonnendeck. Wer links steht, drängt nach rechts, wer vorn ist, will nach hinten. Jetzt, da sich die Flüchtlinge in Sicherheit wähnen, können sie sich auch wieder um andere kümmern, und nun fällt jedem ein, was er bei dem Sturm auf das Schiff vergaß: den Koffer vielleicht oder den Nachbarn, die Mutter oder den Freund, ein Radiogerät oder nur eine Wolldecke.
Vielleicht auch nur das Gewissen …
Marion Fährbach kommt vom Achterschiff. Sie spürt die Kälte nicht und auch ihre Beine nicht mehr, die sie Hunderte von Kilometer trugen, querfeldein, auf einer entfesselten Massenflucht, weitergehetzt von dem gräßlichen Hurräh der Russen in ihrem Rücken. So lange hat sie Jürgen getragen, gezogen, geschleppt. Sie hat ihn Tag und Nacht an der Hand gehalten, der Sicherheit entgegen … Und nun soll sie ihn verloren haben?
Sie glaubt es nicht. Sie wehrt sich mit allen Mitteln dagegen. Sie fragt und geht von einem zum andern. Vielleicht sprach sie hundert an, vielleicht auch mehr. Ein Matrose hilft ihr. Er verläßt seinen Posten. Er kann dem wunden Blick dieser großen traurigen Augen nicht widerstehen. Er hat kein Granitgesicht wie viele dieser Flüchtlinge, die zu viel erlebt und erlitten haben, um für andere noch mitfühlen zu können.
»Wir werden ihn gleich finden«, sagt er schon zum drittenmal.
Marion Fährbach nickt. Aber im nächsten Moment läuft der junge Matrose seinem Chef in den Weg, wird zusammengebrüllt und zurückkommandiert.
Ein alter Mann, vielleicht siebzig, ein Herr, der inmitten dieser grauen, zerlumpten Gestalten gepflegt wirkt, verfolgt die Szene, wirft seine Zigarette weg, lächelt Marion zu. »Kommen Sie, junge Frau«, sagt er, »ich helfe Ihnen.«
Immer höflicher antworten die Flüchtlinge, die Marion fragt, immer fühlbarer wird ihre Teilnahme. Nichts erinnert mehr an die Menschen, die wie Bestien über ein Kind hinwegtrampelten.
Sie sind ja gar nicht so wie am Fallreep, denkt die Mutter, nur ihre Nerven haben versagt, nicht ihr Anstand. Einer von ihnen hat sicher Jürgen mitgenommen; hat ihn aufgehoben, beschützt, und jetzt liegt der Junge wahrscheinlich irgendwo auf einem Strohsack und schläft, mit dem Daumen im Mund, wie es seine Gewohnheit ist …
Marion Fährbach spürt auf einmal etwas von dem Fluidum und Zauber, den sie früher erlebte, als sie an der Rampe stand, als der Beifall zu ihr emporrauschte, als sie die ›Mimi‹ sang oder die ›Tosca‹, als sie sich verbeugte, schmal, hübsch, rassig, und als sie immer wieder gerufen wurde, als die Besucher ihre Garderobe stürmten, klatschten, ein Autogramm wollten, als alle Gesichter, die ihr entgegensahen, sie liebten, sie bewunderten, ihr dankbar waren.
Mein Gott, denkt die junge Frau, wie lange ist das her? Drei Jahre, noch nicht einmal ganz, zwei Jahre erst. Dieser Krieg, alles hat er zerstört. Georg hat er mir genommen. Die Luftangriffe vertrieben uns aus Berlin. Und jetzt hier, Ostpreußen, Flucht, Jürgen … er ist hier an Bord. Ich bin ganz sicher. In einer dieser tausend Kabinen und Decks, in diesem Labyrinth, in dem man sich erst nach Tagen zurechtfinden kann.
»Der Musikraum soll für die Kinder hergerichtet werden«, sagt der alte Mann an ihrer Seite.
»Da war ich schon«, antwortet Marion Fährbach.
»Geduld, wir finden ihn …«
Im gleichen Moment sieht sie seitlich vor sich einen schmalen Blondkopf mit lebhaften Augen.
»Jürgen!« ruft sie und hastet mittschiffs, so daß der alte Herr ihr kaum folgen kann. »Jürgen!«
Und dann steht sie vor einem anderen Kind, das nur eine flüchtige Ähnlichkeit mit ihrem Jungen hat, sieht das zärtliche Lächeln der Mutter und spürt einen Stich im Herzen.
Marion bleibt erschöpft
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