Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
die so grau sind wie das Schiff.
Als Christian Straff über diese Menschenbündel steigt mit dem Kind auf den Armen, als er die schmalen Kindergesichter mit den hungrigen Augen sieht, als er daran denkt, woher die Verpflegung genommen werden soll für die zehntausend, Milch für die Kinder, fällt ihm der südamerikanische Millionär ein, der gegen doppelte Gebühr eine lebende Kuh an Bord brachte, damit seine drei Kinder die Milch weitertrinken konnten, an die sie sich gewöhnt hatten. Bei diesem Gedanken muß er unwillkürlich lächeln: eine lebende Kuh, die für sich allein so viel Platz hatte wie jetzt fünfzig oder hundert Menschen. Eine Extra-Kuh für drei Kinder, und jetzt Hunderte von Kindern, die nicht einmal Magermilch haben …
10.000 Menschen, denkt er, zehntausend …! Früher gab es in der ersten Klasse 575, in der zweiten 275 und in der dritten 465 Passagiere. Und heute 10.000! Eine graue Masse ohne Klassenunterschied – vor der Fahrt über die Ostsee, die der Feind von oben und unten einsieht.
Wenn wir nicht auf dieser Fahrt absaufen, dann auf der nächsten, denkt er, während er den Jungen fast zärtlich in seine Kabine trägt. Aber absaufen werden wir.
Am Ende ist auch das egal.
Christian Straff, der Erste Funkoffizier, merkt, daß er auf seinem eigenen Schiff nicht mehr zu Hause ist. Die fünf Decks, die Niedergänge, die Treppenhäuser, das Bordkino, das Schwimmbassin, die Tanzbars, der Musikraum, der Festsaal sind überfüllt mit menschlicher Fracht. Überall kauern Flüchtlinge.
Plötzlich steht er vor dem Alten mit dem Radio.
»Sie haben mich gestoßen … getreten … mein Radio …«, fährt ihn der Alte an. Sein Blick ist hasserfüllt, aber Christian Straff hat das Empfinden, dieser Blick gilt nicht ihm allein, sondern allen um ihn, dem Schiff, dem Himmel, der Zeit, in der dieser Alte gezwungen ist zu leben.
»Gehen Sie nach unten, dort ist es wärmer«, sagt der Seeoffizier.
»Wissen Sie, wie alt ich bin?« fragt der Alte zusammenhanglos.
»Sie sollten unter Deck gehen, wenn Sie nicht erfrieren wollen.«
»Dreiundsiebzig Jahre«, sagt der Alte.
»Und wissen Sie, wie alt der Junge ist?« fragt Christian Straff gereizt und deutet auf den Jungen in seinen Armen.
»Das geht mich nichts an«, sagt der Alte. »Mein Radio …«
»Vergessen Sie's«, sagt Christian Straff, macht sich frei, stapft vorsichtig weiter, hört den Alten hinter sich mit seiner hohen, weinerlichen Stimme reden: »Wie soll ich's vergessen, wie? Der einzige Sohn tot, die Frau verbrannt, und ich mußte zusehen, und die Tochter – wo ist meine Tochter? Das Radio gehört ihr, und wenn ich sie wiederfinde … wo ist sie? Jetzt ist das Radio weg, und was soll ich ihr sagen, wenn ich …«
Der Funkoffizier hebt die Schultern. Es sieht aus, als zöge er den Kopf ein. Sein Zorn auf den Alten, seine Ungeduld gehen im Mitleid unter.
Endlich erreicht er seine Funkbude. Sie riecht nach Fusel. Der Mann an der Morsetaste hat anscheinend nichts weiter zu tun, als dämlich zu grinsen: sicher betrunken. Ein betrunkener Funkmaat … Himmel, wenn es das früher gegeben hätte! Undenkbar.
Der Funkmaat zieht den Hörer vom Kopf, steht langsam auf. Von seinen Kameraden wird er ›Möhrenkopf‹ genannt – wegen seines schmalen, sich spitz nach unten verjüngenden Kopfes, auf dem die struppigen Haare wie Unkraut wuchern. Sein Blick gleitet unsicher von dem Gesicht des Seeoffiziers nach unten zu dem Jungen.
»Was is 'n das, Herr Kaleu? Ich dachte, Sie wollen Schnaps mitbringen?«
»Du brauchst keinen mehr«, sagt der Seeoffizier.
»Ist das etwa Ihr Sohn, Herr Kaleu? Wer hat ihn denn so zugerichtet?« Sein Grinsen ist schief, sein Blick glasig. »Familienanschluss gefunden?«
»Schnauze!« Straff legt den Jungen behutsam auf ein Notbett. Er sucht Wasser, einen Lappen, wischt dem Kind das Blut aus dem Gesicht, untersucht den Kopf. »Halb so schlimm«, murmelt er erleichtert. »Die haben sich vielleicht benommen! Wie Schweine.«
»Wer?« fragt der Maat. »Die Leute am Fallreep.«
»Alles Volksgenossen«, sagt der Maat. »Gefallen sie Ihnen vielleicht nicht, unsere Volksgenossen?«
»Genauso wie du.«
»Sachte, sachte«, grinst der Möhrenkopf. »Wir bilden jetzt eine verschworene Gemeinschaft, Herr Kaleu. Bei Tag und bei Nacht. Ob ich Ihnen gefalle oder nicht – Sie werden sich an mich gewöhnen müssen. Stubenkameraden. Ihre Kabine ist nämlich beschlagnahmt für werdende Mütter, Herr Kaleu. Is'n Ding,
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