Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
Gotenhafen, 11. Februar 1945:
Die Panik bricht so plötzlich aus wie ein Wirbelsturm. Sie fegt die Marineposten vom Fallreep hinweg wie welkes Laub. Tausende von Menschen haben bei minus 15 Grad eine endlose Nacht lang geduldig auf die Einschiffung gewartet. Ihre Angst wurde durch die Kälte gefüttert. Die Flüchtlinge hatten gehofft, gezweifelt, gebetet. Als der düstere Februartag des Jahres 1945 sein erstes, fahles Licht über Gotenhafen streute, stürmte die Hölle los.
Und mitten in ihr Marion Fährbach.
Keiner hat Zeit, sich um die erschöpfte, zierliche Frau zu kümmern. Niemand sieht, wie schön sie ist. Niemand hat einen Blick für ihre hohe, kluge Stirn, für ihren vollen Mund, für ihre dunklen Augen und für ihre schmale, zierliche Figur.
Niemand achtet auf den kleinen, schmächtigen Jungen an ihrer Hand, der Marion nach einer erbarmungslosen Flucht als letzter Besitz geblieben ist.
Frauen, Kinder, Greise, Männer, Verwundete, Halbwüchsige, die in wilder Horde das Schiff berennen, sind keine Menschen mehr: Männer keuchen an ihren Frauen vorbei; Frauen lassen ihre Kinder stehen; Greise schlagen um sich wie Amok laufende Rowdies. Einer klammert sich an den anderen, stößt sich auf Kosten des Nächsten ab, will an Bord, will flüchten, will nicht von den Russen überrannt, will nicht von den Rotarmisten vergewaltigt, will nicht nach Sibirien verschleppt werden.
Wer fällt, bleibt liegen. Wer zu Boden geht, wird zertrampelt. Wer nicht mehr aufstehen kann, geht ein wie ein Hund. Die Bestie Mensch wirft den letzten Anstand weg. Die Arme und Fäuste werden zu Waffen. Jeder kämpft gegen jeden.
Marion aber kämpft um ihren Jungen.
Ihr Mantel wird in Fetzen gerissen, das bunte Wolltuch vom Kopf gezerrt. Hundert Meter vor dem Ziel, vor dem Fallreep, kommt sie keinen Schritt weiter. Die Hand, mit der sie den Jungen festhält, ist verkrampft, wie abgestorben. Eine Sekunde lang möchte sie sich einfach hinlegen und von der Horde überrennen lassen. Doch dann sieht sie das Kind an, von dessen Vater sie seit Monaten nichts mehr gehört hat, in seine weit aufgerissenen, erschrockenen Augen, spürt den klammernden Druck seiner kleinen Hände an ihrer Hand. Sie hört Jürgen rufen mit seiner kleinen, hellen Stimme, die fast untergeht im Lärm. »Mami – Mami – es tut mir weh – Mami – wann sind wir auf dem Schiff – Mami – Mami – es …«
»Gleich«, ruft sie nach unten, zu dem emporgewandten Gesichtchen, und der Schmerz in ihm und die Angst geben ihr neue Kräfte. Wenn dies nur schon vorbei wäre! Wenn sie endlich weg wären von hier, auf dem Schiff, in einer warmen Kabine! Vielleicht kann sie ein bißchen Milch für den Jungen bekommen, Brot, einen Teller Suppe …
Gleich … Und dabei scheint es ihr, als wäre sie noch nie so weit von dem rettenden Schiff entfernt als gerade jetzt, wo es doch zum Greifen nahe ist.
Der Krieg liegt in seinen letzten Zügen. Aber bevor er stirbt, tobt er noch einen letzten Blutrausch aus: Am 12. Januar 1945 hatten die Sowjets auf breiter Linie die wankende Ostfront durchbrochen, waren tief nach Schlesien eingedrungen, um die Oder bei Küstrin und Frankfurt zu erreichen.
Zuerst zog Marion Fährbach mit ihrem Jungen in einem geordneten Treck nach Westen, bis dieser im zügellosen Durcheinander unterging. Dem russischen Vormarsch folgt der Einbruch der Kälte. Die Landeplätze deutscher Schiffe, die jeweils nur Tausende mitnehmen können, werden von Hunderttausenden belagert, berannt und umkämpft.
Der Tumult um das Fallreep der ›Cap Arcona‹ steigert sich zu einem brüllenden Inferno. Die Verstärkung für die Posten kann keine Ordnung in das Chaos bringen.
Ein Mann schreit durch sein Megaphon: »Nur noch Frauen und Kinder! Seid vernünftig, Leute, so seid vernünftig, zum Teufel! Nur noch Frauen und Kinder!«
Aber seine Stimme geht unter, und diejenigen, die sie hören, kümmern sich nicht um sie. Der Anstand liegt im Massengrab. Ritterlichkeit ist Friedensware. Der Anführer der Posten reißt die Maschinenpistole von der Schulter, legt an, zielt auf einen Mann, der mit seinen großen, von Frost tiefroten Fäusten eine Frau weggestoßen hat, um voranzukommen.
Aber der Soldat schießt nicht. Wie sollte er hier schießen, in diese verzweifelte Menge? Er flucht, brüllt, aber er schießt nicht.
»Mami – Mami – hilf mir – Mami –!« Das Stimmchen des Kleinen ist kaum zu hören. Marion versucht, ihn emporzuheben, aber sie schafft es nicht.
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