Caras Schatten
Prolog
K leiner Frosch, komm raus, komm raus. Wir bau’n dir ein Nest, wir bau’n dir ein Haus.« Zoes glockenhelle Stimme drang durch das dichte Geißblattgestrüpp. Die neunjährige Cara legte einen weiteren Grashalm auf einen kleinen Haufen und blickte hinüber zu ihrer besten Freundin.
Zoe saß im Schneidersitz auf dem Boden, beleuchtet von einem schmalen Sonnenstrahl, der durch das gewölbte Blätterdach zu ihnen hindurchdrang. Das Sonnenlicht funkelte auf ihrem blauschwarzen Haar wie auf einer Wasseroberfläche. Zoe schien Caras Blick zu spüren, denn sie drehte sich zu ihr um und fixierte sie mit ihren durchdringend violetten Augen. Sie lächelte. »Vielleicht kommt ja heute Nacht ein Frosch und schläft in unserem Nest«, sagte sie.
Cara nickte und tippte auf das Nest, das sie und ihre Freundin im Wald hinter Zoes Haus gebaut hatten. »Und morgen früh schleichen wir uns ganz, ganz leise an und gucken hinein …«
»Und dann liegt er da zusammengerollt und schnarcht!«, beendete Zoe den Satz, und die beiden lachten laut los. Sie grinsten einander an. Dann breitete sich ein Strahlen über Zoes Gesicht. »Hey …« Sie rutschte näher heran, bis ihr Knie Caras Jeans berührte. »Willst du mal ein Geheimnis sehen, das meine Mutter in ihrem Zimmer versteckt hat?«, flüsterte sie. Ihr heißer Atem streifte Caras Wange.
Caras Herz schlug ein wenig schneller. Das tat es immer, wenn Zoe sie mit diesem intensiven Blick ansah. Einem Blick, der besagte, dass irgendetwas Spannendes passieren würde. »Kriegen wir dann nicht Ärger?«, flüsterte sie zurück.
Zoes warme, schwitzige Hand umschloss Caras Finger. »Keine Sorge. Es ist keiner zu Hause.« Sie zog Cara auf die Beine.
Zusammen krochen die Mädchen aus dem Geißblattgestrüpp. Ein Hund, der jenseits eines hohen Maschendrahtzauns ihre Bewegungen hörte, bellte wütend. Cara zuckte zusammen und stolperte über ein rostiges Dreirad, das verlassen auf der Seite lag. Überall in dem kleinen Garten war kaputtes Plastikspielzeug verstreut. Schlaftrunkene Kiefern ließen über dem hohen Gras ihre Äste hängen.
Zoe öffnete die rostige Fliegengittertür und führte Cara in einen schmalen, dunklen Korridor. Im Haus roch es nach faulen Eiern. Überall stapelten sich Kartons. Cara folgte ihrer Freundin eine schmale Treppe hinauf in ein kleines Schlafzimmer, dessen Fenster den Bürgersteig vor dem Haus überblickten.
Zoe schlich sich zu einem winzigen altmodischen Tischchen, das neben dem Bett stand. Cara verspürte ein nervöses Blubbern in der Magengrube. Unwillkürlich musste sie kichern.
»Wird deine Mutter nicht sauer, wenn wir einfach so in ihr Zimmer gehen?«, fragte Cara beinahe flüsternd, während sie sich im Raum umsah. Das Bett war ein Wirrwarr aus zerknitterten Laken und Decken. Über der Rückenlehne eines Sessels und am Boden verstreut lagen zahlreiche Kleidungsstücke, so als hätte jemand Hals über Kopf das Haus verlassen. Durch die verdreckten Scheiben konnte Cara die ordentlichen weißen Fensterläden ihres eigenen Hauses erkennen.
Zoe antwortete nicht. Cara hörte ein kratzendes Geräusch von Holz auf Holz und richtete den Blick wieder auf ihre Freundin, die sich mit der kleinen Nachttischschublade abmühte.
»Warte, ich helf dir«, sagte Cara und legte ihre Hand über Zoes. Zusammen zerrten sie an dem Griff, bis die Schublade ächzend nachgab.
Zoe griff hinein und holte ein orangefarbenes Röhrchen mit Tabletten heraus. »Hier, ich hab sie!«
Cara riss die Augen auf.
»Das sind Zombiepillen oder so was«, erklärte Zoe. »Davon wird man voll beneeeebelt.« Sie streckte die Arme vor dem Körper aus, die Tabletten in der Hand, und torkelte mit geschlossenen Augen im Zimmer umher, bis sie gegen die Kommode stieß. »Autsch.« Sie kicherte und öffnete die Augen. »Willst du mal sehen?« Zoe hielt ihr das orangefarbene Röhrchen hin.
Vorsichtig nahm Cara es entgegen. Allein die Tatsache, es in der Hand zu halten, war bereits herrlich unheimlich. Sie drehte das Röhrchen um, bis sie das Etikett lesen konnte, aber es standen nur lauter lange medizinische Fachbegriffe darauf, die allesamt auf »-zol« oder »-zin« endeten. Die einzigen Zeilen, die Cara verstand, lauteten: Eine (1) Tablette am Tag, während der Mahlzeiten einnehmen. Keine Einnahme auslassen, da die Symptome ansonsten zurückkehren können .
Zoe riss Cara die Tabletten aus der Hand und tanzte damit durchs Zimmer. »Zommmbiepillen!«, rief sie und sprang auf dem ungemachten
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