Für eine Nacht
Erstes Kapitel
Chase Chandler trat in die Ankunftshalle des Dulles International Airport hinaus und atmete tief durch. Die Luft fern seiner Heimatstadt Yorkshire Falls, New York, roch nach Freiheit. Endlich.
»Hey, großer Bruder!« Sein jüngster Bruder Roman umarmte ihn ungestüm. »Willkommen in Washington. Hattest du einen guten Flug?«
»Kann man so sagen. Kurz, ruhig und pünktlich.« Chase warf sich seinen Seesack über die Schulter. »Wie geht’s deiner Frau?«
Ein breites Lächeln trat auf Romans Gesicht. »Ausgezeichnet. Sie wird mit jedem Tag runder. Mein Kind wächst und gedeiht«, fügte er hinzu, als hätte er sie nicht alle schon hundertmal auf Charlottes Schwangerschaft hingewiesen. »In einem Monat ist es so weit.« Er rieb sich vor Vorfreude strahlend die Hände.
»Vor noch gar nicht allzu langer Zeit waren eine Ehefrau und Kinder das Letzte, was du wolltest. Wir mussten eine Münze werfen, um auszulosen, wer von uns Mom das heiß ersehnte Enkelkind beschert. Und schau dich jetzt an. Du hast dich in einen glücklichen Gatten und werdenden Vater verwandelt, und beides scheint dir gut zu bekommen.« Chase nickte bedächtig. Es gefiel ihm, wie sehr sich sein kleiner Bruder
zu seinem Vorteil verändert hatte. Roman hatte seinen Platz im Leben gefunden, was Chase das befriedigende Gefühl verlieh, seine Pflicht gegenüber seiner Familie erfüllt zu haben.
Roman zuckte die Achseln. »Was soll ich sagen? Ich bin eben ein anderer Mensch geworden.«
»Du bist erwachsen geworden, meinst du?«, bemerkte Chase augenzwinkernd, und sein Bruder grinste.
Beide Männer wussten, wie lange Roman mit sich gerungen hatte, bis er zu dem Schluss gekommen war, dass er sein ungebundenes Leben als Auslandskorrespondent nicht aufgab, wenn er Charlotte heiratete, sondern es gegen ein wesentlich erfüllteres Leben eintauschte. Jetzt arbeitete er als Reporter für die Washington Post .
»Du hast ja keine Ahnung, was dir alles entgeht«, ging Roman zum Gegenangriff über. »Eine Frau, zu der du abends nach Hause kommst, ein weicher, warmer Körper im Bett und das Bewusstsein, dass es da jemanden gibt, der dich bedingungslos liebt.«
Sowohl Roman als auch sein Bruder Rick, der ebenfalls vor kurzem geheiratet hatte, versuchten seit einiger Zeit ständig, ihn von den Vorteilen der Ehe zu überzeugen. Aber damit stießen sie bei Chase auf taube Ohren. »Ich kann sehr gut ohne all das leben, vielen Dank. Und wenn ich mich einmal einsam fühlen sollte, schaffe ich mir einen Hund an.«
Seine Träume kreisten nicht um eine Ehefrau und eine Familie. Er hatte schon seine liebe Not damit gehabt, seine beiden Brüder großzuziehen, auf eigene kleine Plagegeister legte er wenig Wert. Seit seinem achtzehnten Lebensjahr, als sein Vater plötzlich gestorben war, hatte er die Rolle des Familienoberhaupts übernehmen müssen. Er hatte die Yorkshire Falls Gazette weitergeführt und seiner Mutter bei der Erziehung
seiner Geschwister geholfen – zwei Dinge, die er nie bereut hatte. Chase zählte nicht zu den Menschen, die mit ihrem Schicksal haderten. Und jetzt, mit siebenunddreißig, konnte er endlich sein eigenes Leben leben und seine lang gehegten Träume verwirklichen. Diese Reise nach Washington war der erste Schritt dazu.
Er machte einen Bogen um ein vor ihnen schlenderndes Paar. Dann musterte er Roman, auf dessen Gesicht noch immer ein breites Grinsen lag. »Ich schätze, ich sollte jetzt Mom anrufen und ihr erzählen, dass du vor Vaterstolz fast platzt.«
»Spar dir die Mühe.« Roman winkte ab. »Wenn wir nicht in Yorkshire Falls sind, ruft sie jeden Tag an, um sich nach Charlottes Zustand zu erkundigen.«
Chase nickte. Das war seine Mutter Raina, wie sie leibte und lebte – ständig mischte sie sich in alles ein und war auch noch stolz darauf. »Ich freue mich jedenfalls für dich.« Er klopfte seinem Bruder auf die Schulter.
»Und ich bin froh, dass du einmal die Verantwortung für die Zeitung jemand anderem überlassen und deine eigenen Wünsche vorangestellt hast.«
Chases Antwort bestand in einem undefinierbaren Grunzen. Sein Bruder hatte Recht. Seit er die Gazette übernommen hatte, hatte er die Leitung nicht einen Tag lang aus der Hand gegeben.
»Das Auto steht im Parkhaus.« Roman deutete in die entsprechende Richtung. Chase folgte ihm, wobei er beinahe über ein kleines Kind gestolpert wäre, das die Ankunftshalle zu seinem Spielplatz auserkoren hatte.
»Danke, dass du mich abgeholt hast«, sagte er zu seinem
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