Für immer am Meer - Henry, V: Für immer am Meer
jedoch war die Begeisterung von Jane, der ältesten Tochter der Lowes, verflogen. War sie früher mit ihren wehenden strohblonden Haaren den ganzen Tag lang im Sand herumgetollt, so langweilte sie sich jetzt zu Tode. Den ganzen Sommer mit ihren lästigen kleinen Geschwistern am Strand verbringen? Nein, danke. Genervt saß sie in einem der gestreiften Liegestühle und blätterte lustlos in einer Zeitschrift. Im Grunde wusste sie genau, dass es ihr besser gehen würde, wenn sie sich einen Ruck gäbe und zu den anderen gesellte, aber irgendetwas hielt sie davon ab, und so blieb sie Tag für Tag mit der Sturheit einer Heranwachsenden in ihrem Liegestuhl hocken.
Sie könnte jetzt in London sein und Spaß haben! Wahrscheinlich waren die meisten ihrer Freunde in die Ferien gefahren, aber sicherlich nicht alle. Auf jeden Fall wäre in London mehr los als hier. Sehnsüchtig dachte sie an die ver rauchten kleinen Klubs und gemütlichen Pubs, wo sie neuerdings ihre Abende verbrachte. Natürlich durfte sie die Schule abends eigentlich nicht verlassen, aber sie und Sandra hatten eine Möglichkeit entdeckt, unbemerkt zu verschwinden. Es war nicht gerade das, wofür ihre Eltern so viel Geld berappten. Sie wollten, dass die Mädchen tippen und stenografieren lernten, damit sie später einmal mit Erfolg einen Beruf ausüben konnten. Wie unglaublich weitsichtig von ihnen! Jane jedenfalls wollte keinen Erfolg. Sie wollte ihren Spaß!
Typisch für sie, dass sie erst nach sieben Monaten in Miss Grimshires Schule für höhere Töchter die wahren Vergnügungen des Londoner Nachtlebens entdeckt hatte. So waren die letzten beiden Monate im Nu verflogen, bis sie mit ihrem Abschlusszeugnis die Schule verlassen hatte (gute Noten und 140 Anschläge pro Minute, und das, obwohl sie sich dauernd die Nächte um die Ohren geschlagen hatte), und jetzt hockte sie auf einmal wieder in Everdene, ein partysüchtiges Geschöpf, das noch gar nicht richtig zum Zuge gekommen war. Sie wollte Diskolichter und Action, schicke Klamotten und Musik! Und nun saß sie in diesem gottverlassenen Kaff ohne Aussicht auf ein kleines bisschen Spaß. Gut, es gab ein ganz nettes Freizeitangebot, aber das bestand hauptsächlich aus Schlagball am Strand und verbrannten Grillwürstchen – und nicht aus Cocktails in einem Kellerklub, wo einem die Musik durch den Körper pulsierte.
Und so verlegte sie sich aufs Schmollen. Ihre Mutter war natürlich nicht sonderlich erfreut darüber, ganz im Gegenteil. Sie hörte gar nicht mehr auf, sich über die neuentdeckte Trägheit ihrer Tochter auszulassen. Prue war selbst eine entschlussfreudige Person, die gern anpackte und organisierte und nicht lockerlassen konnte, wenn sie sich einmal an etwas festgebissen hatte.
»Du kannst doch nicht die ganzen Ferien im Liegestuhl herumhängen und Trübsal blasen!«, schalt sie ihre älteste Tochter. »Du brauchst Bewegung! Geh am Strand spazieren.«
Jane verdrehte nur die Augen und blätterte weiter in ihrer Zeitschrift. Sie hatte sie zwar schon gelesen, aber die Chancen, in dem kleinen Laden von Everdene eine aktuelle Aus gabe aufzutreiben, standen ziemlich schlecht. Wenn sie Strick muster suchte oder idiotensichere Kochrezepte für Würstchen im Schlafrock, war sie dort an der richtigen Adresse, nicht aber, wenn sie wissen wollte, was sie diesen Herbst anziehen sollte.
Wenn es überhaupt etwas gab, was wenigstens halbwegs Spaß machte, war es, bei Roy Mason am Kiosk zu sitzen, wo er Eis verkaufte und dabei Radio hörte. Wenn einer ihrer Lieblingssongs kam, bat sie ihn immer, das Radio lauter zu stellen. Sie versuchte ihn zum Tanzen zu bewegen, aber jedes Mal, wenn sie ihn anfasste, zuckte er zurück, als hätte er sich verbrannt. Die Jungs in London zuckten nicht zurück – im Gegenteil. Vielleicht war sie nicht Roys Typ? Er schien ziemlich scharf auf Marie zu sein, deren Mutter das Café am Ende der Strandpromenade gehörte. Marie arbeitete dort und brachte Roy manchmal ein Schinkenbrötchen an den Strand, dann verzog Jane sich meistens. Sie hatte keine Lust, das fünfte Rad am Wagen zu sein.
Nachdem Marie Jane zum dritten Mal bei Roy angetroffen hatte, stellte sie sie einmal zur Rede.
»Lass ja die Finger von Roy!«, fauchte sie und fuchtelte ihr mit dem Finger vor der Nase herum.
»Hey, hey, mal langsam«, erwiderte Jane und hob die Hän de, um ihre Unschuld zu beteuern. »Wir reden doch nur miteinander.«
Marie durchbohrte sie mit einem giftigen Blick. Von da an ließ Jane sich
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