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Fürchtet euch

Fürchtet euch

Titel: Fürchtet euch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wiley Cash
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Bill.
    »Ich seh’s«, antwortete ich. Er sah wieder zu mir rüber, und dann kam er einen Schritt näher, als hätte er Angst, es könnte uns jemand beobachten und hören, was er mir jetzt sagen wollte.
    »Zwischen den Brettern und dem Fensterrahmen sind Ritzen«, sagte er. »Wenn du nah genug dran bist, kannst du reingucken.«
    Ich schaute zu dem Klimagerät rüber, und obwohl ich von da, wo ich stand, nichts hören konnte, konnte ich sehen, wie es heiße Luft nach unten in das Gras unter dem Fenster pustete. Die Kirche war weiß gestrichen, aber unten rum war sie gelbrot geworden, von dem Dreck und Schlamm, der bei Regengüssen vom Gras hochspritzte.
    »Ich wette, er ist noch drin«, sagte Joe Bill.
    »Glaubst du?«
    »Jede Wette«, sagte er. »Ist noch nicht lange her, dass Mr Thompson ihn geholt hat.« Joe Bill ließ den Ast los, den er festgehalten hatte, und der peitschte ganz dicht an meinem Ohr vorbei und wieder hoch in den Baum.
    »He!«, schrie ich. »Du hättest mir fast das Ohr abgerissen!«
    »Pssst!«, flüsterte er. »Sei leise.« Er schloss die Augen und senkte den Kopf, und einen Moment lang sah es so aus, als wollte er anfangen zu beten, aber dann machte er die Augen ganz langsam wieder auf, als wäre er kurz eingenickt und gerade wieder wach geworden. »Hör doch mal«, sagte er.
    »Was denn?«
    »Hörst du das nicht?«
    »Was soll ich denn hören?«
    »Hör doch mal«, sagte er wieder.
    Ich senkte den Kopf und schloss die Augen, genau wie ich das bei Joe Bill gesehen hatte, und zuerst konnte ich nichts hören außer ein paar Vögeln, die in den Bäumen über uns krakeelten, und dem Geräusch des Windes, der durch das hohe Gras streifte, und nach einer Minute konnte ich nicht mal mehr das hören. Aber dann erhob sich im Wald hinter mir ganz langsam der Gesang der Grillen, und ihr Zirpen klang, als würde einer mit einem Löffel über einen sauberen Essteller kratzen, und dahinter, hinter den Bahngleisen auf der anderen Seite des Waldes, hörte ich den Fluss, der gemächlich Richtung Marshall floss, und er war so leise, dass ich nicht wusste, ob ich es mir einbildete oder mich an den Klang erinnerte, bloß weil er ja da sein musste. Sonst hörte ich nichts, bis ich darauf lauschte, was vor mir draußen auf der Wiese war, wo die Grashüpfer und Heuschrecken im hohen Gras schwirrten. Da war ein Geräusch, das ich die ganze Zeit gehört hatte, ohne es überhaupt zu merken, und als ich es jetzt wahrnahm, konnte ich endlich auch das hören, was Joe Bill meinte. Am Anfang hörte ich es wie einen Herzschlag, und es fühlte sich auch in meiner Brust wie ein Herzschlag an, als ob es in meinem Körper wäre und mir gegen die Rippen pochte, weil es rauswollte. Ich musste an die Marschkapelle der Madison High bei Footballspielen denken und an die Trommler, die ihre Trommeln vor die Brust geschnallt trugen, und an das Gefühl, das du in dir drin kriegst, wenn sie in der Halbzeit aufs Feld marschieren, mit Tambourstöcken und Hörnern und Trommeln und dem ganzen Krach, den sie veranstalten. Und dann konnte ich schwache andere Klänge hören, die dicht über diesem Herzschlag schwebten: Die elektrische Gitarre klang über die Wiese wie ein knisterndes altes Radio, das keinen klaren Empfang hatte, und gleich danach hörte ich jemanden auf einem Klavier hämmern. Plötzlich wusste ich, dass es Musik war, was ich da hörte, und als ich die Augen öffnete, wusste ich, dass sie aus der Kirche kam. Ich sah zu Joe Bill hinüber.
    »Das ist Musik«, sagte ich.
    »Ich weiß«, sagte Joe Bill. »Die singen da drin.«
    Wir standen im Schatten und lauschten auf die Musik, die über die Wiese zu uns herüberdrang. Dann und wann konnte ich die Stimmen von Leuten hören, und es klang, als würden sie laut rufen.
    »Willst du mal reingucken?«, fragte Joe Bill.
    »Ich weiß noch nicht«, antwortete ich, aber tief im Innern wünschte ich, ich könnte »nein« antworten, weil ich eine Heidenangst davor hatte, quer über die große Wiese zu laufen und heimlich die Leute da drin zu beobachten. Mama hatte mir und Stump eingebläut, es wäre nicht richtig, sich an Erwachsene ranzuschleichen, und einmal hatte sie uns erwischt, wie wir Daddy und Mr Grant in der Scheune belauschten, als sie dabei waren, Tabakblätter aufzuhängen. Als sie uns entdeckte, bugsierte sie uns ins Haus und verabreichte uns eine ordentliche Tracht Prügel mit einem von Daddys alten Gürteln hinten auf die Beine.
    »Ich hab euch gesagt, ihr sollt Erwachsenen

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