Funkensommer
wandert rüber zu Jelly. »Versteh doch …«
Meine Freundin reagiert nicht.
»Jelly-Bean«, bettle ich. »Sei nicht sauer!«
Immer noch keine Reaktion.
»Ich muss los«, sage ich schließlich und verabschiede mich.
Als ich in die Pedale trete, ist es mittlerweile so heiß geworden, dass ich befürchte, der Asphalt könnte an den Rädern kleben bleiben. Mühsam kämpfe ich mich voran. Keine einzige Ähre bewegt sich auf den Getreidefeldern. Die Luft flirrt im Sonnenlicht. Und meine Tränen verdunsten, ehe sie die Nasenspitze erreicht haben.
Die Sichel
Der Traktor steht auf dem abgedroschenen Feld. Ringsherum ist es heiß und staubig. Und gelb. Alles scheint heute gelb zu sein. Lenas Löckchen. Die Sonne. Unsere Felder. Der Mähdrescher. Die Wintergerste, die vom Inneren der Erntemaschine ausgespuckt und in den Kipper gefüllt wird. Sogar die Kappe von Hans, dem Mähdrescherfahrer, ist gelb. Als er zu mir herüberwinkt, sehe ich, wie mich die Kappe im Sonnenlicht angrinst. Nur Hans grinst nicht. Mürrisch fuchtelt er mit der Hand. Voll, soll das bedeuten. Damit meint er den Kipper.
Ich nicke ihm zu. Der Mähdrescher heult auf und macht sich als überdimensionale Ameise an der nächsten Getreidereihe zu schaffen.
Ich weiß, was jetzt zu tun ist, und muss unwillkürlich an Papas heutige Bauernregel denken: Der Juli bringt die Sichel für Hans und für den Michel. Also für mich. Widerwillig atme ich die staubige Luft ein, die sich in der Traktorkabine gefangen hat, greife nach dem Zündschlüssel und drehe ihn um. Sogleich fängt der Motor zu ruckein an. Ich lasse die Kupplung kommen und das Gefährt setzt sich langsam in Bewegung. Hintenan der sieben Tonnen schwere Kipper. Ob das gut geht?
»Bloß aufpassen«, sage ich mir, als er zu schwanken beginnt. Der unebene Feldboden macht mir zu schaffen. Zum Glück ist die Straße schon in Sicht. Dort wird der Kipper nicht ganz so schlimm wackeln.
»Nur nicht zu viel einschlagen. Nur nicht zu viel Gas geben«, pocht es in meinem Hirn, als sich die Feldausfahrt nähert. Meine Fingerknöchel sind schon ganz weiß vom krampfhaften Halten des Lenkrads. Im Kriechgang lenke ich das tonnenschwere Gefährt um die Kurve. Als die Traktorschnauze in Richtung Straße zeigt, atme ich auf. Nur noch ein kleines Stück, nur noch ein paar Meter. Geschafft. Ruhig rollt der Traktor auf dem Asphalt dahin. Jetzt kann nichts mehr passieren. Ich will schon einen Jubelschrei loslassen, da kommt Raphael in seinem Audi daher. Mit Lichthupe. Quietschend bleibt er neben mir stehen und kurbelt das Fenster einen Spaltbreit hinunter. Mehr traut er sich nicht, wegen des Staubs in der Luft.
»Wo bleibst du denn?«, brüllt er aus dem Fensterschlitz. »Mama und Papa warten schon seit einer Ewigkeit auf dich. Du hältst die ganze Arbeit auf!«
Ich versuche Raphael zu ignorieren und ruckele weiter.
»Jetzt leg halt endlich den zweiten Gang ein«, schreit mein Bruder. Dabei muss er sich den Hals verrenken, um aus dem Fensterspalt plärren zu können.
»Ich fahr ja schon«, gebe ich zurück, ohne die Straße aus den Augen zu lassen. »Was willst du überhaupt? Weiß Mama Bescheid, dass du hier bist? Auf dem Feld, meine ich?«
Raphael wirft mir einen gefährlichen Blick zu. »Halt bloß den Mund und fahr endlich«, knurrt er. Dann kurbelt er die Fensterscheibe hoch und rast im Affentempo davon. Erst als er außer Sichtweite ist, schalte ich einen Gang höher. Keine Ahnung, was mit meinem Bruder schon wieder los ist. Auf alle Fälle hat er einen Vollknall. Dabei ist Raphael nicht immer so gewesen. Er wurde erst nach dem Anfall so. Das passierte ungefähr vor einem Jahr. Da war es auch heiß. Die Sommerferien standen unmittelbar bevor. Es war die Zeit der Getreideernte. So wie heute. Nur dass Raphael damals auf dem Traktor saß und die Gerstenfuhren nach Hause brachte. Und nicht ich.
Doch dann lag er auf einmal auf dem Stoppelfeld. Zwischen all dem Stroh. Sein Mund begann sich ganz komisch aufzureißen und er verdrehte dabei die Augen. Speichel lief aus seinem Mund. Der Körper zuckte wie verrückt. Und mein Bruder, der noch vor wenigen Augenblicken neben dem Traktor gestanden und mit Hans gealbert hatte, verwandelte sich mit einem Schlag in einen Fremden. Ich glaube, nicht nur ich spürte das. Auch Hans, den Mähdrescherfahrer, überkam dieses Gefühl der Ohnmacht, da niemand in dem Augenblick wusste, was zu tun war. Nicht einmal Mama oder Papa. Erst als sich Raphaels Körper entkrampfte und er
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