Funkensommer
ganz weiß im Gesicht wurde, brach Hektik aus. Während das Heulen der Sirenen die Ohnmacht zerriss.
Einige Zeit später, im Krankenhaus, erfuhren wir, dass Raphael einen epileptischen Anfall gehabt hatte. Grand mal nennt man so etwas. Mit den richtigen Antiepileptika könne man das gut behandeln, sagten die Ärzte.
Das stimmte auch. Raphael kriegte danach keine Anfälle mehr. Aber etwas anderes machte sich in seinem Leben breit. Und somit auch in unserem. Er bekam nämlich, wahrscheinlich ausgelöst von den Epi-Blockern, eine schwere Allergie gegen sämtlichen Heu- und Tierstaub. Die Ärzte waren ratlos. Meine Eltern auch. Was folgte, waren unzählige Behandlungen, Tests und Diäten. Allesamt mehr oder weniger erfolglos. Übrig blieb die Erkenntnis, dass Raphael in der Landwirtschaft plötzlich nicht mehr mithelfen konnte. Dass er wohl nie den Bauernhof würde übernehmen können. Dass ich an seiner Stelle diese Rolle zugeschoben bekam. Und niemand hatte mich jemals gefragt, ob ich das überhaupt wollte.
Und so begann sich das Leben zu verändern. Raphael wurde zum unberechenbaren Arschloch. Mama duldete es. Und Papa tat so, als ob nie etwas passiert wäre. Außer dass er seine ganze Aufmerksamkeit, die er vorher Raphael entgegengebracht hatte, nun auf mich übertrug …
Vielleicht, frage ich mich, als ich mit dem Traktor am Hof ankomme, hat Jelly recht, und ich sollte mir wirklich nicht mehr so viel gefallen lassen. In Gedanken versunken schiebe ich den Kipper zum Getreidesilo. Dort wird die Gerste übers Jahr gelagert. Aber wie soll ich das anstellen? Das mit dem Nicht-gefallen-Lassen, meine ich.
Da reißt Papa plötzlich die Traktortür auf und schreit: »Sag mal, wo bleibst du denn? Bist du unterm Fahren eingeschlafen, oder was?« Er kocht vor Wut. »Hast du überhaupt eine Ahnung, was Hans pro Stunde fürs Mähdreschen verlangt?« Er greift nach meiner Hand und zieht mich vom Traktorsitz.
»Was willst du?«, rufe ich verärgert. »Ich bin das erste Mal mit dem Riesenkipper gefahren. Wäre es dir lieber gewesen, ich hätte ihn umgeschmissen?«
Papas Kopf wird rot vor Zorn. Aber auch vor Anstrengung. Und Stress. »Das hätte uns gerade noch gefehlt. Und jetzt schau endlich, dass du vom Traktor runterkommst. Der Hans wartet schon auf den nächsten Kipper. Oder soll er die Gerste am Feld abladen? Mach schon!«
Ich springe vom Traktor und schaue mich hilfesuchend um. Aber Mama steht nur da, mit der Schaufel in der Hand, und wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu.
Da platzt mir der Kragen. »Wisst ihr was«, schreie ich meine Eltern an. »Macht doch euren Scheiß selber!« Eine zornige Welle überrollt mich. Ich drehe mich um und verschwinde ins Haus. Was für ein beschissener Tag! Zuerst meint Lena, Finn anbaggern zu müssen. Dann ist Jelly sauer auf mich. Mein Bruder rastet wieder einmal ohne Grund aus, und meine Eltern … die sind ohnehin zum Kotzen. Glauben die wirklich, dass ich das hier aus Spaß mache?
Ich knalle die Hoftür hinter mir zu und schleudere meine Arbeitsschuhe in die Ecke, da kommt Mama herein.
»Hannah, so geht das nicht«, sagt sie in strengem Ton. »Du weißt doch, wie eilig wir es zu den Erntezeiten haben. Da muss jeder mit anpacken … so ist das nun mal auf einem Bauernhof …« Sie kommt einen Schritt auf mich zu und legt die Hand auf meine Schulter. »Du kannst jetzt nicht einfach gehen. Papa muss mit dem Kipper fahren und ich muss beim Getreidesilo bleiben … das wird bis zum Abend dauern. Da können wir nicht auch noch die Stallarbeit machen …«
»Ach so ist das«, lächle ich säuerlich.
Mamas Hand rutscht von meiner Schulter. Einen kurzen Augenblick glaube ich, dass sie mich verstehen kann. Wenigstens ein kleines bisschen. Doch dann kehrt die altgewohnte Strenge in ihr Gesicht zurück, und sie sagt: »Sei froh, dass es dir nicht so ergeht wie deinem Bruder!« Und als sie die Tür aufschwingt, hängt sie dran: »Ausmisten brauchst du nicht mehr. Nur füttern. Das geht eh schnell!« Dann dampft sie ab.
Es ist nach sieben, als ich mich aufs Rad schwinge. Mama und Papa sind noch am Ernten. Ich kann Hans’ Mähdrescher auf dem Feld brummen hören. Leise mache ich mich aus dem Staub. Ich will endlich meine Ruhe haben. Verschwinden.
Die Schweine sind gefüttert. Lanzelot auch. Und Brummer – der ist kugelrund, wie am Tag seiner Geburt.
Also, alles in Ordnung. Zumindest für meine Eltern.
Um nicht entdeckt zu werden, nehme ich die Straße durch den Wald. Ich habe mir
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