Furor
Vater das genauso gesehen hätte.
Und deshalb hatte er sich dagegen entschieden, seinen Vater – oder vielmehr dessen Hülle – im Krankenhaus zu besuchen. Sein Vater hätte nichts davon, und er selbst . . . Sebastian spürte eine schwarze Leere in sich, und er hatte Angst, dass sie sich beim Anblick dieses Körpers mit Verzweiflung füllen würde. Er war noch nicht bereit, den Tod seines Vaters so nahe an sich heranzulassen.
Am Odeonsplatz reihte er sich in die Passantengruppe ein, die sich von der Rolltreppe in das unterirdische Röhrensystem der U-Bahn tragen ließ. Die Verkehrsbetriebe berieselten den Bahnsteig mit Vivaldis ›Vier Jahreszeiten‹. Es war stickig, in der verbrauchten Luft hing der Geruch von heißem Kunststoff.
Wie ferngesteuert beschloss Sebastian, ins Institut zurückzufahren und im Büro seines Vaters nach irgendetwas zu suchen, das helfen würde, zu begreifen, was geschehen war. Außerdem musste er unbedingt jemanden fragen, wie es jetzt weitergehen würde, was zu tun war. Vermutlich gab es eine ganze Reihe von Dingen zu organisieren, Unterlagen zu sichten, mit denen sich irgendjemand würde beschäftigen müssen. Das brachte ihn auf einen Gedanken. Er holte sein Handy aus der Hosentasche, doch bevor er es einschalten konnte, kam seine Bahn, und er verschob den Anruf auf die Ankunft am Sendlinger Tor.
Während er die Lindwurmstraße entlangging, rief Sebastian über sein Mobiltelefon in der Anwaltskanzlei Kanngießer und Lannert an.
Auf Höhe der Matthäuskirche meldete sich die Sekretärin und stellte ihn zum Anwalt seines Vaters durch.
»Ich habe es schon gehört, Sebastian«, begrüßte Horst Lannert ihn. »Es tut mir furchtbar Leid. Ich weiß, dass man in so einem Moment nicht viel sagen kann, aber wenn ich etwas für dich tun kann, lass es mich bitte wissen.«
Sebastian wusste, dass Lannert es ernst meinte. Er war für Christian Raabe mehr gewesen als nur sein Anwalt. Die beiden Männer hatte eine langjährige Freundschaft verbunden.
»Danke. Ich . . . Ich weiß überhaupt nicht, was jetzt zu tun ist. Könnten Sie . . . Könnten wir uns . . .«
»Aber natürlich. Ich würde vorschlagen, wir treffen uns gleich in der Wohnung deines Vaters und besprechen dort alles Weitere. Wir können dann auch seine Unterlagen durchgehen und so weiter. Ich werde für heute alle Termine absagen.«
Sie verabredeten sich für den Nachmittag. Sebastian fiel ein Stein vom Herzen. Als er das Handy wieder in die Hosentasche stecken wollte, klingelte es. Kurz schwebte sein Daumenüber der Stopp-Taste, doch dann sah er, dass es die Mailbox war.
»Sie haben eine neue Nachricht. Heute um ein Uhr vierzehn«, kündigte die bekannte Frauenstimme an.
»Junge, es . . . Es tut mir Leid.«
Sebastian erstarrte. Das war die Stimme seines Vaters. Wie konnte . . . Natürlich, die Nachricht stammte aus der vergangenen Nacht. Er trat rasch in den Vorraum der Matthäuskirche, hier war es still und die Stimme seines Vaters klang wie aus dem Jenseits.
»Ich habe Fehler gemacht, furchtbare Fehler, Sebastian. Aber jetzt ist es vorbei. Ich werde für alles bezahlen.«
Wovon sprach sein Vater da?
»Ich habe immer versucht, euch aus allem rauszuhalten. Es gibt da etwas in meinem Leben, wovon ihr nichts wisst.«
Sebastians Hand krampfte sich um das Handy, und er bemerkte erst jetzt, dass er die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Er ließ sie zischend aus der Lunge strömen, während er angespannt weiter zuhörte.
». . . schalt meinen Computer an. Auf der Festplatte befindet sich ein Ordner ›Memout‹. Lösch ALLE Dateien darin. Und dann vergisst du, dass es sie je gab, hörst du? Es hat sie nie gegeben, und du weißt nichts von ihnen. Verstehst du?«
Noch nie hatte Sebastian seinen Vater so reden gehört. Er spürte die blanke Verzweiflung in jedem Satz. Trotz des kühlen Luftzugs über den Bänken des Gotteshauses brach Sebastian der Schweiß aus.
»Und noch etwas. Ich weiß nicht, warum, aber man scheint so etwas immer erst zu sagen, wenn es zu spät ist. Ich hoffe, es hat für dich noch eine Bedeutung. Ich bin stolz auf dich, und war es immer. Es tut mir Leid, dass ich dir kein besonders guter Vater war, aber ich liebe dich. Und ich weiß, du kommst zurecht.«
Sebastian hörte die Nachricht noch einmal ab, dann noch einmal. Und jedesmal brannten sich die Worte in sein Bewusstsein »ich habe Fehler gemacht, furchtbare Fehler« und »ich bin stolz auf dich«.
Verstört ging er tiefer hinein in die dunkle
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