Kreuzberg
1 MEYER LEGTE DEN KOPF in den Nacken, blinzelte die Morgensonne an und atmete tief durch. Hinter ihm
schlossen sich die schweren Stahltore der Tegeler Justizvollzugsanstalt. Der
größte Knast Deutschlands seit 1898. Hier hatten sie schon den Papst
eingebuchtet, Andreas Baader und den Hauptmann von Köpenick. Meyer war jetzt
draußen. Vorläufig jedenfalls. Punkt neunzehn Uhr hatte er sich hier wieder
einzufinden. »Freigang« nannte sich das. Wegen guter Führung. Und um sich
wieder einzugliedern in die Gesellschaft.
Es wird
etwas passieren, dachte er, umsonst lassen sie mich nicht raus.
Meyer
wandte sich nach links und lief langsam die Seidelstraße hinunter. Ein heißer
Augusttag brach an, schon jetzt flimmerte der Asphalt im Sonnenlicht. Richtiges
Hochsommerwetter, da sollte man eigentlich Shorts und T-Shirt tragen. Dennoch
hatte sich Meyer für einen schwarzen Rollkragenpullover, teure italienische
Slipper und die anthrazitfarbene Bundfaltenhose entschieden, die perfekt zum
weit geschnittenen Sakko passte. Er wollte nicht wie ein Sträfling aussehen,
wie ein Freigänger auf Bewährung.
Zudem hatte
er keine andere zivile Kleidung. Im Knast trug man Anstaltskluft. Zwar hätte
Meyer Monika bitten können, ihm ein paar Sachen zu schicken, aber sie wusste ja
nicht, dass er jetzt besuchsweise rausdurfte. Sie sollte es nicht wissen. Meyer
wollte sie überraschen, und deshalb trug er jetzt jene Kleidung, mit der er im
vergangenen Oktober seine Haftstrafe angetreten hatte. Herbstlich und viel zu
warm, aber edel. Nichts von der Stange jedenfalls. Allein das Sakko hatte gut
anderthalbtausend Mark gekostet. In der Innentasche knisterten zwei Papiere.
Ein offizielles von seinem Bewährungshelfer mit Kontaktadressen vom Sozialamt
und der Eingliederungshilfe. Und dann eines, das ihm der Anwalt unauffällig
zugesteckt hatte. Handschriftlich war darauf der Name des stellvertretenden
sowjetischen Militärattachés an der Botschaft Unter den Linden vermerkt.
Gennadi Njasow, ein General a. D., der Meyer schnellstmöglich treffen wolle. Es
ginge um eine dringende strategische Angelegenheit.
Ja, dachte
Meyer, es wird etwas passieren.
Neben ihm
stoppte ein giftgrüner Opel Corsa und hupte. Meyer zuckte zusammen und wandte
sich um. Im Wagen saß eine Frau, nicht mehr ganz jung, vielleicht Mitte, Ende
vierzig, und winkte ihm zu.
»Sind Sie
Meyer?«
»Wer will
das wissen?«
»Sie sind
Meyer«, stellte die Frau fest und öffnete die Beifahrertür. »Steigen Sie ein,
wir müssen reden!«
»Reden?«
Meyer ging zögernd auf den Wagen zu und beugte sich fragend zur Fahrerin
hinunter. »Worüber?«
»Vielleicht
über Ihre Zukunft?« Die Frau erwiderte seinen Blick. »Vielleicht aber auch über
Ihr geplantes Treffen mit General Njasow?«
»Verstehe.«
Meyer lächelte. »Sie sind nicht vom Sozialamt.«
»Und auch
nicht Ihre Bewährungshelferin«, erklärte die Frau ungeduldig. »Nun steigen Sie
endlich ein!«
»Nur, wenn
ich wieder aussteigen darf.«
»Keine
Sorge, ich bringe Sie schon pünktlich in Ihren Knast zurück.«
»Na denn.«
Meyer setzte sich auf den Beifahrersitz und schloss seufzend die Wagentür. »Ich
hatte mir meinen Freigang zwar anders vorgestellt, aber –«
»Wie
denn?«, unterbrach ihn die Frau und gab Gas. »Erzählen Sie, ich bin gespannt:
Was will der General von Ihnen?«
Meyer
lehnte sich zurück und schnallte sich an. »Mal angenommen, ich wüsste, wer Sie
sind und wovon Sie reden«, sagte er nach einer Weile gedehnt, »vielleicht würde
ich mich mit Ihnen unterhalten.«
»Wie wär’s
mit einem Frühstück«, schlug die Frau vor.
»Gute
Idee«, antwortete Meyer, »die Morgenmahlzeiten sind im Knast eher einseitig.«
»Toast,
Rührei mit Zwiebeln und Speck? Orangensaft dazu?«
»Nicht
übel. Und einen Espresso, stark und schwarz.« Er sah die Frau durch seine
randlose Brille an. »Laden Sie mich ein?«
»Gerne.«
Die Frau fuhr auf die Stadtautobahn Richtung Innenstadt. »Ich hab schon mehr
für gute Informationen zahlen müssen.«
»Wer sagt
Ihnen denn, dass ich gute Informationen liefere?«
»Mein
Gefühl, Meyer«, erwiderte die Frau, »nur mein Gefühl.«
Wenig
später saßen sie unter Sonnenschirmen draußen vor dem Bistro an der Filmbühne
am Steinplatz. Die Vögel zwitscherten im Laub der alten Bäume, gedämpft war der
Autoverkehr von der nahen Hardenbergstraße zu hören. Aus den Lautsprechern des
Bistros klang eine verkratzte Aufnahme von Edith Piafs »La Mer«.
Meyer
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