Galgenberg: Thriller (German Edition)
auf der anderen Seite des Steinbruchs. Den Blick fest auf das Unterholz gerichtet, wartete Riedwaan ab. Ein Stachelschwein trottete vorbei, die Schnauze gesenkt, die Stacheln hinter sich herschleifend wie eine dicke Frau in einem steifen Tüllrock. Das Tier schnupperte an einem Baum herum und trollte sich dann in die Dunkelheit.
Riedwaan hielt sich an einem Ast fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und suchte den Abhang ab. Ein weiterer Trampelpfad. Und tief unter ihm ein Klumpen Binsen am Rand des schwarzen, rechteckigen Sees.
Wenn Clare nicht hier war, wo zur Hölle steckte sie dann?
46
»Also, meine Liebe, ich schließe daraus, dass Sie ab sofort brav bleiben wollen?« Osman zog die Kette um Clares Hals straff. Dabei lächelte er. »Wenn Sie sich ruhig verhalten, können Sie weiter atmen. Wenn Sie sich wehren, sterben Sie. Wenn Sie sterben, stirbt auch Lilith. So einfach läuft das. Solange Sie am Leben sind, hat sie noch eine Chance. Und solange ich am Leben bin, hat sie eine Chance, nicht wahr?«
Clare nickte.
»Ganz zahm, sehr schön. So gefällt mir das viel besser. Und jetzt, Dr. Hart, werden Sie aufstehen und mit mir kommen. Denn Sie werden damit der kleinen Lilith eine weitere Stunde Lebenszeit kaufen. Genau wie sich selbst.«
Er zog an, und sie folgte ihm über den zugewachsenen Pfad. Die Zweige schrammten, trocken und hart nach dem langen regenlosen Sommer, über Clares Gesicht. Sie hob die Hände, um sich zu schützen. Osman zog stärker an, schleifte sie weiter. Er war vertraut mit dem Gelände und wusste genau, wohin er seinen Fuß setzen musste. Jenseits der Bäume traten sie ins Freie, und die Stadt erstreckte sich unter ihnen. Orange und weiß glühten in der Ferne die Lichter am Nelson Mandela Boulevard und gleich unter ihnen die an der Somerset Road. Sie strengte sich an, Schritt mit Osman zu halten.
Jetzt gingen sie zwischen den Bäumen entlang, und das Seufzen des Grases an Clares Beinen löste die Erinnerung an die Geräusche in Liliths Galerie-Installation aus.
Osman blieb stehen. Wachsam.
Links, am Rand ihres Blickfeldes, spürte Clare eine Bewegung. Sie hielt inne und versuchte, etwas zu erkennen, ohne dabei den Kopf zu drehen.
Die Stadt lag in unruhigem Schlummer, während über ihr das Feuer tobte. Clare konnte, den Wind im Rücken, den Rauch riechen. Flammen fegten durch die borstige Mähne aus Kiefern abwärts auf den Signal Hill zu. Mit ihnen würden Feuerwehr, Polizei und Neugierige zu ihnen kommen. Bitte. Ein Kindergebet an einen Gott, der sie schon lange nicht mehr erhörte. Bitte mach, dass das Feuer zu uns kommt. Bitte mach, dass es mich rettet.
Clare nahm eine weitere Bewegung wahr und sah nach links.
Ein Schatten schien sich aus dem Gehölz unter den Bäumen zu lösen und auf sie zuzuhalten. Hoffnung flackerte auf. Und erstarb. Ein Stachelschwein auf der Flucht vor den Flammen. Tränen brannten in Clares Augen.
Osman ließ den Blick über den Abhang wandern, den steilen Abstieg zum Steinbruch.
»Hier entlang«, sagte er.
Seine Stimme machte ihr bewusst, dass sie noch am Leben war und dass, solange sie am Leben war, auch Lilith noch am Leben war. Das tapfere Mädchen, das seiner Mutter auf genau diesem Weg gefolgt war. Ihrer Mutter und diesem Mann. Clare riss sich zusammen und drängte das Grauen zurück in die Tiefe, wo es in ihrem Unterbewusstsein lauerte.
Sie folgte ihm wie ein Hund. Das Feuer, vom Wind angefacht, kam unaufhaltsam auf sie zu. Osman schien es gar nicht zu merken.
Sie war am Leben. Und sie kannte diesen Mann. Sie kannte ihn weit besser, als er ahnte. Sie hatte eine Chance.
Er ruckte an der Leine, aber sie bekam das Metall noch rechtzeitig zu fassen, bevor es ihr die Kehle abschnürte. Allerdings nicht so schnell, dass sie das Halsband über den Kopf streifen konnte. Ein Schluchzen entschlüpfte ihr, als sie ihm auf den mondbeschienenen Hang folgte und kurz ins Rutschen kam, weil das Wasser durch die Steine gesickert war.
Osman blieb an dem feuchten Fels stehen und schaute nach unten. Unter ihnen lag düster und bedrohlich der Steinbruch; der Wind trieb ungeduldig über das stille Wasser.
»So, Dr. Hart. Sie sind doch die Expertin«, wandte er sich an sie. »Sie können mir bestimmt sagen, wovor sich Frauen am meisten fürchten.«
»Dass ein Mann sie umbringen könnte«, antwortete Clare.
»Sie wissen Bescheid.«
»Mr Osman, wovor fürchtet sich ein Mann am meisten?«
»Wie gesagt, Sie sind die Expertin. Sagen Sie es
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