Galgeninsel
in Immenstaad. Er hatte ihr den Weg zwar beschrieben, doch sie musste doch zweimal nachfragen, bis sie endlich einen der Patientenparkplätze belegen konnte. Es waren überwiegend ältere Damen, die ihrem Termin entgegenharrten und sie mit missmutigen Blicken verfolgten, als sie nach kurzem Getuschel am Anmeldetresen direkt in eines der Behandlungszimmer geleitet wurde. Dr. Jehlen war noch nicht anwesend. Lydia studierte einige Minuten lang die großen Schaubilder an der Wand, die verschiedene Organe in gesundem und erkranktem Zustand zeigten. Sie wartete darauf, dass es irgendwo zog, zwickte oder stach. Dr. Jehlen kam dem zuvor. Er war ein distinguierter Herr von Mitte fünfzig, der sie humorvoll empfing. »Wo drückt es denn?«
Sie holte die Fotos aus dem Aktenordner. »Wie ich Ihnen am Telefon schon sagte, haben wir Ihre Nummer aus den Unterlagen von Herrn Kandras.«
Er verfolgte, wie sie das Foto von Anna Kandras auf den Schreibtisch legte und sagte: »Schlimme Sache, das mit dem Herrn Kandras.«
»Ja. Schlimme Sache. Ich möchte Sie bitten sich einige Fotos anzusehen und mir zu sagen, ob sie die abgebildeten Personen kennengelernt haben.«
Er blickte kurz zum Schreibtisch. »Na ja. Angesichts dessen, was Herrn Kandras widerfahren ist, gäbe es vielleicht etwas, was ich Ihnen berichten sollte.«
Sie sah ihn fragend an.
»Es kam zu keinem Geschäftsabschluss mit Herrn Kandras. Und das aus sehr, wie soll ich sagen, sehr ungewöhnlichen Umständen.«
»Was waren das für ungewöhnliche Umstände?«
»Nun ja. Ich war mit Kandras eigentlich schon einig über den Kauf zweier Wohnungen in Langenargen. Es ging noch darum, einen Notartermin zu finden … da bekam ich überraschend … Besuch.«
Er sprach Besuch mit besonderer Betonung aus.
»Besuch«, wiederholte Lydia.
»Na ja. Man könnte es so nennen. Ein Mann suchte mich hier in der Praxis auf … und … also er bat mich die zwei Wohnungen nicht zu kaufen.«
»Wie?«, fragte Lydia irritiert.
Jehlen lächelte etwas verschämt. »Ja. Da redet man nicht gerne drüber. Es war wie in den Krimis im Fernsehen, eine Drohung, allerdings sehr professionell gemacht. Der Besucher machte mir unmissverständlich klar, dass es für mich nicht von direktem Vorteil sei, wenn ich das Geschäft mit den zwei Wohnungen bei Kandras abschließen würde.«
Lydia setzte sich auf die Schreibtischkante. »Kannten Sie den Mann?«
Er schüttelte den Kopf. »Nie gesehen.«
»Wie sah er denn aus?«
Jehlen winkte ab. »Er sprach sehr schlecht deutsch, mit starkem russischen Akzent.«
Lydia blätterte ganz schnell und legte das Foto von Kubasch auf den Tisch.
Jehlen sah sie verwundert. »Ja. Das war er. Genau der war hier.«
Sie war konsterniert. »Und dieser Mann hat Sie unter Druck gesetzt?«
»Ja. Wie ich schon sagte. Er hat mich hier in der Praxis aufgesucht und vom Wohnungskauf abgeraten.«
»Erinnern Sie sich, ob er nur von den Wohnungen sprach oder hat er gesagt, Sie sollten von Kandras nichts kaufen?«
»Also soweit ich mich erinnere sprach er nur von den Objekten. Es war eine für mich äußerst eigentümliche Situation. Ich habe so etwas ja auch noch nie erlebt. Aber … ich habe Kandras daraufhin angerufen und ihm mitgeteilt, dass ich kein Interesse mehr an dem Geschäft habe. Mehr habe ich ihm auch nicht gesagt. Ich wollte einfach nichts mehr mit der Sache zu tun haben, verstehen Sie?«
Lydia nickte. »Und Sie hatten dann auch Ruhe?«
Er nickte. »Nie mehr was gehört.«
Sie war unschlüssig und dachte nach.
»Hat Ihnen das nun weitergeholfen?«, fragte Jehlen.
Sie antwortete wie aufgeschreckt. »Ja, ja. Natürlich.«
Draußen im Auto sah sie auf die Uhr. Die anderen warteten sicher auf sie, angesichts der vielen Vernehmungen. Es hatte aber noch keiner auf dem Handy angerufen und gefragt, wo sie denn stecke. Sie holte die Telefonliste heraus und ging die Vorwahlnummern durch. Vielleicht schaffte sie noch einen Besuch hier in der Nähe. Die neuen Informationen konnte sie zwar schon einordnen, doch mindestens eine zweite Quelle war zur Bestätigung ihrer Vermutung erforderlich. Sicherheit. Sie wollte Sicherheit, bevor sie in die Vernehmung mit Anna Kandras und Kehrenbroich ging. Fakten. Immer waren es Fakten, die Klarheit brachten. Gefühle, Ahnungen und Intuition waren schon erforderlich. Doch wenn man beginnen musste einem Verdächtigen weh zu tun, dann war die Objektivität von Fakten erforderlich. Gefühle halfen da nicht mehr weiter. Sie atmete durch und
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