Galgeninsel
eben.
»Also, kein plötzlich und unerwartet eintretendes Ereignis«, ergänzte Lydia.
Es war der Ältere, der ihr antwortete. »Es ist droben auf der B31 passiert. Im Waldstück zwischen Oberdorf und Mariabrunn, Fahrtrichtung Friedrichshafen. Relativ gerades, gut ausgebautes Stück Straße. Der Lkw kam aus Friedrichshafen mit leicht überhöhter Geschwindigkeit. Sechsundsiebzig Sachen hatte er drauf. Aber das hatte keine Auswirkungen auf das was da passiert ist. Der Fahrer war gerade erst losgefahren, ausgeruht, frisch, erfahren.«
Er unterbrach und sagte zum Rotbackigen: »Hol doch mal die Sach.« Der Angesprochene stand wortlos auf und verließ das Zimmer.
»Der Fahrer im Lkw hat gesehen, wie der Passat mit hoher Geschwindigkeit die B31 runterkommt und kurz vor dem Lkw plötzlich nach links gerät.«
Lydia unterbrach ihn. »Ist der Passat nach links geraten oder hat er nach links gezogen?«
»Das kann der Fahrer nicht unterscheiden. Er hat angegeben, das entgegenkommende Fahrzeug sei nach links geraten. Und dann hat es ja auch gleich gescheppert. Und wie!«
Der Rotbackige kam wieder zurück. Er hatte einen Stapel Akten und eine durchsichtige Plastiktüte mit Gegenständen. Sie erkannte eine Geldbörse, ein Ledermäppchen, einen Schüsselbund und ein Handy. Der Ältere nahm die Akten entgegen und holte eine Bildmappe heraus. Lydia verzog das Gesicht und stöhnte mitfühlend, als sie die Aufnahmen sah. Mondringers Passat war durch den Aufprall auseinandergerissen worden.
»Er hatte keine Chance. Bei dieser Geschwindigkeit, weit über hundert, frontal unter die Achse eines voll beladenen Lkw. Selbst mit Airbag und was weiß ich, Schleudersitz oder so, keine Chance.«
Jetzt deutete er auf eine Übersichtsaufnahme. »Schau! Hier! Im gesamten Bereich keine Bremsspuren zu erkennen.« Dann deutete er auf ein paar Flecken, die Lydia gar nicht wahrgenommen hätte. »Aber das hier, das sind Abriebspuren. Mondringers Auto ist ins Schleudern gekommen, und zwar vor dem Aufprall. Keine Bremsspuren, aber trotzdem Abriebspuren.«
Lydia sah ihn fragend an und zuckte mit den Schultern. Er lachte. »Die Versicherung hat keine Chance. Diese Spuren deuten schon darauf hin, das Mondringer versucht haben könnte noch wegzukommen. Aber er war zu schnell. Wir gehen von hundertfünfzig aus. Da sind dreißig, vierzig Meter nichts, weißt du. Und er hat den Lkw nur mit der linken vorderen Seite erwischt, dann ist das Auto hochgeflogen, hat sich mehrmals überschlagen und ist schließlich an den Bäumen zerschellt.« Er zeigte ihr die dazugehörigen Fotos. »Natürlich. Aus Sicht der Versicherung … es könnte ein Suizid gewesen sein. Aber die Spurenlage gibt das nicht her. Beweisen lässt sich da gar nichts mehr.«
Lydia deutete auf den Plastikbeutel. »Sind das noch Sachen von Mondringer? Kann ich mal sehen?« Die anderen nickten.
Sie holte zuerst das Handy heraus und schaltete es ein. Der Akku war fast leer, aber sie brauchte nicht zu lange. Die Anrufliste war nicht gelöscht und sie notierte die Nummern. Dann ging sie das Adressbuch durch. Eine Menge Einträge. Schließlich sah sie in der Galerie nach Fotos und Videofilmen. Ein Video war abgespeichert. Als sie sich die nur wenige Sekunden dauernde Sequenz ansah, entfuhr ihr ein überraschtes »Mein Gott.«
Die anderen wurden neugierig und sie zeigte ihnen das kleine Filmchen. Sie sahen sich verwundert an. »Ist das wichtig für euch?«
»Allerdings. Ich muss das Handy mitnehmen, unbedingt. Steht dem irgendwas entgegen?«
Der Dienstgruppenleiter schüttelte den Kopf. »Nein. Für uns nichts von Belang. Nach Abschluss des Verfahrens wäre es an die Hinterbliebenen zurückgegangen. Aber jetzt ist es ja Beweismittel in eurer Sache, oder?«
Sie nickte, trank zügig leer und bedankte sich besonders herzlich für die Unterstützung. Sie hatte das Handy dabei, als sie ging. Die Fotos vom Unfall wirkten besänftigend auf ihren Fahrstil. Nicht nur weil auch sie gerade einen blauen Passat fuhr. Doch aller wiedergeborenen Vorsicht zum Trotz telefonierte sie während des Fahrens. Die Zeit drängte und es lief gut, denn gleich der erste Anruf war erfolgreich. Ein Arzt, den sie in der Praxis aufsuchen konnte. Eisen musste man schmieden solange sie heiß waren. Eigentlich fand sie Redewendungen kindisch und gebrauchte sie nie. Aber immer wieder, bei den verschiedensten Gelegenheiten, fielen ihr genau diese Sprüche ein. Es war was dran.
*
Dr. Jehlen war Internist und hatte seine Praxis
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