Galgeninsel
in seinem Büro und sah hinaus in den Hof, wo Kehrenbroich bereits etwas verloren herumstand.
Lydia begleitete Anna Kandras, die sich etwas zögernd verhielt, zum Ausgang. Eine spürbare Unruhe hatte sie erfasst. Als sie die wenigen Stufen hinunter gegangen war, drehte sie sich plötzlich zu Lydia Naber um. »Sie wollten wissen was passiert ist?«, zischte sie voller Anspannung hervor. Ihre Stimme zitterte. Lydia musste schlucken. Jetzt. Ausgerechnet jetzt, wo sie keinem Druck mehr ausgesetzt schien, war Anna Kandras völlig außer sich. Es war fast, als wollte sie schreien, als sie erneut sagte: »Sie wollten wissen was passiert ist?« Sie atmete schwer. »Nora war noch sehr klein. Da ist er nach Hause gekommen, dieses besoffene Schwein. Er ist auf mich losgegangen, wie wild völlig außer sich.«
»Er hat sie vergewaltigt?«, stieß Lydia hervor.
Anna Kandras lachte laut. »Dazu war er nicht mehr in der Lage. Aber geprügelt hat er mich, wie einen räudigen Hund hat er mich durch die Wohnung getrieben, mit einem Gürtel.«
Mit wenigen Schritten, ganz schnell war sie die Stufen wieder nach oben gesprungen, sah in den Vorraum, kontrollierte, ob dort jemand stand, und packte Lydia dann am rechten Unterarm. Ihr Griff war fest und ihre Stimme leise und voller Anspannung. »Damals. An diesem Abend. Da wollte ich ihn töten und ich habe es auch versucht. Aber dieser elende Kerl hatte Glück, unverdientes Glück.«
»Die Narbe auf der Brust«, sagte Lydia leise.
»Ja. Ein Kerzenständer. Schmiedeeisen. Ich war sehr sportlich damals. Wenn er nicht vor lauter Suff umgekippt wäre …« Sie schmiss mit einer heftigen Bewegung des Kopfes eine Strähne nach hinten. »Damals …«, sie brach ab, setzte neu an, »… hatte er Glück. Heute wäre ich dazu nicht mehr in der Lage und allein der Gedanke an Nora würde mich zurückhalten. Aber Mitleid oder Trauer …? Nein, niemals! Erwarten Sie das nicht von mir. Niemand hat das von anderen zu verlangen, denn ich, wissen Sie, ich war das Opfer und ich habe feststellen müssen, dass sich dafür niemand interessierte. Wissen Sie, er hat es niemals bereut. Es war ihm einfach egal. Auch als ich ihn rausgeschmissen habe, gleich am nächsten Tag. Ihm war nur eines wichtig – das Geld und die Firma. Er hat sich nicht einmal ins Krankenhaus getraut und ist wochenlang herumgekrochen wie eine angefahrene Katze.«
Sie lachte heiser und böse nach dem letzten Satz. »Und jetzt? Alles war vorbereitet. Jetzt war es soweit, dass ich ihm endlich das genommen hätte, was ihm niemals zugestanden hat, diesem unfähigen Schmarotzer. Schade, dass er sich vorher davon machen durfte.«
»Aber aus welchem Grund haben Sie ihn geheiratet? Das verstehe ich wirklich nicht.«
Der Griff ihrer Hand wurde lockerer. »Es war ein Akt grober Dummheit. Ich habe diesen Kerl nie ernst genommen, aber – ich wollte meinem Vater imponieren«, sie packte wieder kräftiger zu. »Denken Sie nicht darüber nach. Ich war ja schon eine erwachsene Frau, aber … eben eine ganz andere … ich habe das nicht ernst genommen, verstehen Sie? Ich habe Kandras und die Heirat nicht ernst genommen. Ich hatte geheiratet, einen relativ gut aussehenden, reichen Kerl. Das genügte mir … damals.«
Anna Kandras sah Lydia in die Augen und schwieg nun. Sie ließ ihren Arm los und es war ihr anzusehen, wie sehr sie sich unter Kontrolle halten musste. Abrupt drehte sie sich um und ging, wandte sich nach wenigen Schritten noch einmal um und sagte, nun viel ruhiger: »Mehr werden Sie von mir zu dieser Sache nie mehr hören. Alles Weitere regeln meine Anwälte. Nehmen Sie das nicht persönlich.«
Lydia war angesichts des unerwarteten emotionalen Ausbruchs tatsächlich in Aufregung geraten. Ihr Herz schlug bis zum Hals und nun blies sie langsam den angestauten Atem durch die leicht geschürzten Lippen und sah dieser beeindruckenden Frau nach. In ihr musste immer noch ein heftiges Feuer lodern, das durch den Tod von Kandras offensichtlich nicht gelöscht worden war. Was sollte noch verbrannt werden? So wie es geklungen hatte, war sie durch den Tod um eine lange vorbereitete Rache gebracht worden. Und das machte sie nicht unverdächtiger.
Schielin saß immer noch am Schreibtisch und beobachtete Kehrenbroich. Anna Kandras kam in langsamen Schritten auf ihn zu und so wie Kehrenbroich sie ansah, schien sie mit ihm zu reden. Sie ging bis kurz vor ihn, legte beide Hände auf seine Schultern und drückte so zu, dass sein Oberkörper ein
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