Gauß: Eine Biographie (German Edition)
klapprige Stege aus Holzplanken lässt sich der Graben überqueren. Nur so kommt man auf die andere Straßenseite.
Zu den Parzellen am Wendengraben gehören teilweise ansehnliche Stallungen, Höfe und Gärten. Über der noch ungepflasterten Straße biegen sich die Äste von Apfel-, Kirsch- und Zwetschenbäumen. Zwischen zwei Nachbarhäusern vis-à-vis des Gauß’schen Grundstücks führt eine schmale Gasse zu einer riesigen Weide, auf der Kühe und Schafe grasen und Schweine sich suhlen [Mod: 137]. In diese urbane Dorfidylle wird am 30. April 1777 das einzige Kind von Dorothea und Gebhard Dietrich hineingeboren: Johann Carl Friderich Gauß, wie es in der Geburtsurkunde steht.
Das Geschäft des Vaters scheint zu florieren. Er macht sich nicht mehr allein krumm, lässt Angestellte für sich arbeiten. Während die Lehmentierer noch als unorganisierte Saisonarbeiter gelten, genießen die Hausschlachter im wurstverliebten Braunschweig seit langem Gildenstatus. Gebhard findet Zeit, sich umzuhören, und knüpft allmählich auch Kontakte, die über die Geselligkeit der organisierten Hausschlachter hinausreichen. Schließlich fasst er Fuß in der Gilde der «Pipenbrüder», die traditionell für die Wasserleitungen, auch Pipen genannt, in der Stadt zuständig sind. Und Carl Friedrichs Vater wird das Amt eines «Wasserkunstmeisters» in Aussicht gestellt, was vornehmer klingt, als es in Wirklichkeit ist. Gebhard Gauß soll nicht etwa für die Springbrunnen und Wasserspiele im herzoglichen Lustgarten verantwortlich sein, wie der Titel suggerieren könnte, sondern mit der Wartung eines Abschnitts der normalen städtischen Wasserleitungen betraut werden.
Ende März 1780, vier Wochen vor Carls drittem Geburtstag, liegt, nur zwei Häuserblocks von der Gauß’schen Hof- und Gartenidylle entfernt, Carl I., Herzog von Braunschweig und Lüneburg, im Sterben. Vor vier Jahren hat ihn ein Schlaganfall niedergestreckt. Rechter Arm und Zunge sind gelähmt. Inzwischen führt sein Sohn, Erbprinz Carl Wilhelm Ferdinand, kommissarisch die Regierungsgeschäfte. Angeblich hat der jämmerliche Zustand des alten Herzogs – so zumindest erzählen es sich die Leute in der Stadt – mit den Heerscharen abgerissener Gestalten zu tun, die im Frühjahr 1776 nach Braunschweig hereinmarschiert kamen: ein bunt zusammengewürfelter Haufen junger Männer [Dro: 153]. Das geschah vier Wochen vor Gebhards und Dorotheas Hochzeit. Auch durch das Wendentor muss ein beträchtlicher Teil dieser Vagabundentruppen von vielen tausend Mann die Stadt betreten haben und an Gebhards Haus vorbei, den Wendengraben entlang, zielstrebig auf das herzogliche Schloss zugeeilt sein. Denn der junge Erbprinz hatte eine verwegene Entscheidung getroffen. Seit vielen Jahren bereits hatte er sich bemüht, das hochverschuldete Herzogshaus zu sanieren. Rigoros streicht er dem vergnügungssüchtigen Vater die mit altfranzösischem Pomp geführte Hofhaltung zusammen. Er will die Finanzverwaltung modernisieren und den drohenden Staatsbankrott verhindern. Doch die jahrhundertelange Verschwendungssucht der Welfenherrscher, Misswirtschaft und die drückende Zinslast der Schulden lassen Carl Wilhelm Ferdinands viele kleine Sparmaßnahmen zur Farce werden. Die Finanzreform droht zu scheitern. Obendrein verlangt das Nachbarland Hannover die sofortige Rückzahlung eines zwanzig Jahre alten Darlehens oder die Abtretung des dafür verpfändeten Fürstentums Blankenburg. Dieses Harzer Filetstück hat Carl I. allerdings schon in einem undurchsichtigen Kreditgeschäft der Berliner Verwandtschaft als Sicherheit überschreiben müssen. Der preußische König, Friedrich der Große, und der Braunschweiger Herzog Carl I. sind miteinander verschwägert. Carls Schwester Elisabeth Christine ist die Ehefrau Friedrichs des Großen, während dessen Schwester, Philippine Charlotte, mit Carl verheiratet ist.
Auf dem Höhepunkt dieser finanziellen Zwangslage, in der das Ansehen des Hauses Braunschweig auf dem Spiel steht, kommt dem Erbprinzen im Herbst 1775 unerwartet eine Verlegenheit des Königs von England zu Hilfe. Georg III. braucht dringend mehr Soldaten, um seine Kolonien in Nordamerika wieder in den Griff zu bekommen. Sie haben sich offen gegen ihn aufgelehnt und kämpfen jetzt um ihre Unabhängigkeit. Am Braunschweiger Hof rennen die englischen Agenten mit ihrem Anliegen offene Türen ein. Der Prinz wittert ein einträgliches Geschäft und lässt sich auf den «Verkauf von Landeskindern nach Amerika»
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