Gauß: Eine Biographie (German Edition)
der Vergangenheit angehören, statt Latein die deutsche Sprache gepflegt werden und weltliche Bildung nach dem Nützlichkeitsprinzip den Vorzug vor der Christenlehre erhalten. Vor allem aber soll «statt unbedingten Gehorsams sittliche Selbstverantwortung» geübt werden. Sogar über die «Trennung von Kirche und Staat» wird bereits laut nachgedacht. Die Schule als «Werkstatt des heiligen Geistes» soll ein für alle Mal passé sein und endlich den nüchternen Erfordernissen des modernen Merkantilismus genügen.
Ferdinands Liberalisierungsbemühungen der Erziehung kommen während Carls Volksschulzeit kaum über das Stadium der Ankündigung hinaus. Zu groß ist der Widerstand der weltlichen und klerikalen Machteliten. Die Buchstabierlektionen bleiben daher auf Kurs. Sie dienen der Dressur zu Frömmigkeit und Abhängigkeit von Sünde und Vergebung. Am Wendengraben 1550 muss sich indes ein wissbegieriger Junge fragen, ob es eine Sünde ist, den Vater insgeheim für die Ohrfeige oder die Tracht Prügel zu verfluchen, die der ihm für einen vermeintlich sinnlos verbummelten Nachmittag über den Mathematikbüchern verabreicht. Schließlich gibt es in Haus und Hof, Stall und Garten immer etwas zu tun. Du sollst Vater und Mutter ehren. Während die geliebte Mutter alles tut, um ihrem Carl kleine Zeitfenster für die selbständige Fortbildung zu öffnen, besteht der Vater auf der täglichen Mithilfe seines Jüngsten. Stiefbruder Georg geht inzwischen immerhin bei einem Schneidermeister in die Lehre.
Im Frühjahr 1786 beginnt mit der Versetzung in die dritte Klasse endlich auch der Mathematikunterricht – seit Einführung der allgemeinen Schulpflicht die Stunde der bitteren Wahrheit für die Auffassungsgabe eines Durchschnittsschülers. So kündigt denn Büttner auch mit wahrhaftem Stolz ein Programm an, das für die im Schweigen erstarrte Mehrheit wie eine Drohung klingt: sage und schreibe das komplette kleine Einmaleins als großes Fernziel, wobei der Schulmeister offenlässt, was genau er unter Ferne versteht. Der dienstälteste Gauß-Denkmalschützer, Baron Wolfgang Sartorius von Waltershausen, hat in seiner Erinnerungsschrift die Legende überliefert, der Neunjährige habe hier, in der miefigen Schulstube im Zentrum von Braunschweig, das Grundgesetz für Zahlenreihen gefunden und sich als mathematisches Wunderkind erwiesen. Gauß selbst habe diese Geschichte noch in hohem Alter immer wieder gern zum Besten gegeben [Wal: 12]:
Ein Tag im Frühling oder zu Beginn des Sommers 1786. Etwa hundert Jungen im Alter zwischen sieben und vierzehn Jahren drängen sich barfuß und in kurzen Hosen in die niedrige Schulstube. Keines der hier versammelten Kinder ahnt, dass es in wenigen Minuten zum Zeugen eines Ereignisses wird, das in die Mathematikgeschichte eingehen wird. Und ihren Mitschüler Carl Friedrich Gauß – ja, den Sohn des Maurers und Hausschlachters um die Ecke am Wendengraben! – unsterblich macht.
Wahrscheinlich ist Büttner an diesem Morgen schlecht gelaunt und will von seiner nichtsnutzigen Meute einfach mal nichts sehen und hören. Die Aufgabe, die er der Korona stellt, lässt jedenfalls Rückschlüsse auf ein gewisses Ruhebedürfnis zu. Die Kinder sollen nämlich alle Zahlen zwischen 1 und 100 zusammenzählen:
1 + 2 = 3; 1 + 2 + 3 = 3 + 3 = 6; 1 + 2 + 3 + 4 = 6 + 4 = 10 …
Was zunächst simpel klingt, wird die schlechtausgerüsteten Schüler jedoch in größte Schwierigkeiten stürzen. Und das wird die Bande, so weiß der Lehrer, eine ganze Weile beschäftigt halten. Bei so vielen Additionen am Stück lauert der Fehlerteufel hinter jeder Zwischensumme. Eine kleine Unkonzentriertheit – und schon ist das Malheur passiert. Alle weiteren Schritte zögern das falsche Ergebnis nur noch hinaus.
Nur einer macht das grausame Spiel nicht mit. Während alle anderen schwitzend kritzeln und beim Banknachbarn vergleichen oder abzuluchsen versuchen, schaut ein Drittklässler ein paar Minuten lang aus dem Fenster hoch zur Turmspitze der Katharinenkirche und schreibt dann ungerührt und kalt entschlossen eine einzige vierstellige Zahl auf seine Tafel, fügt seinen Namen hinzu, steht auf und bringt sie nach vorn zu einem großen Tisch. Dort legt er sie – einem alten Brauch gehorchend – selbstbewusst mit der beschrifteten Seite nach unten und ruft, vermutlich nicht ohne Stolz: «Ligget se!» So viel Frechheit verschlägt Büttner dann doch die Sprache. Es ist der Sohn von Lehmmaurer und Hausschlachter Gebhard Gauß.
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