Geboren in Atlantis
Es ist das Böse, das schattenhafte Böse, das hier lauert. Man merkt es genau. Die Schatten machen ernst, hörst du?«
»Quatsch.«
»Doch, Baby-Jim. Jetzt sind sie soweit.«
»Ich kenne sie nicht.«
Lulu schüttelte den Kopf. »Keiner kennt sie aus dieser Gegend richtig. Aber sie sind vorhanden, das weißt du, das weiß ich. Die Schatten sind verdammt gefährlich. Kaum jemand wagt es, über sie zu reden, aber ich will dich warnen. Verlasse diesen Ort, such dir einen anderen aus. Scheiß was auf deinen Kunden, wenn dir dein Leben lieb ist, Baby-Jim!«
»Du redest irre.«
»Nein.«
»Bockmist.«
Sie ließ ihn los, schüttelte den Kopf und schlug mit der Faust auf das Lenkrad. »Dir ist wirklich nicht zu helfen. Du bist…«, sie winkte ab.
»Fahr weiter und mach irgendwo anders die Beine breit.«
Sie grinste ihn an. »Ich werde auf deiner Beerdigung nicht erscheinen. Ich werde nicht einmal um dich weinen, denn um Idioten weint man nicht, Süßer. Überhaupt nicht. Man spuckt höchstens auf ihren Sarg und sorgt dafür, dass man selbst besser ist.«
»Ja, ja, ich weiß Bescheid.« Heftig drehte er sich um und wandte ihr den Rücken zu. Er schaute auch nicht hin, als sie startete und die Reifen über das feuchte Kopfsteinpflaster hinwegrutschten. Er schaute ihr nicht nach, wollte nur seine Ruhe haben und ärgerte sich, dass er es nicht schaffte, weil die Worte der kleinen Hure bei ihm Bedenken ausgelöst und seine Nervosität noch gesteigert hatten. Irgendwo stimmten ihre Warnungen. Auch er hatte schon von den Schatten gehört, die im Eastend hausten, das Viertel beherrschten, aber selten zu sehen waren.
Man bekam nur ihre Opfer zu Gesicht. Meist tot oder, wenn sie Glück hatten, nur verletzt. Die Schatten hatten diese Taten auf dem Gewissen oder ihre geheimnisvolle Herkunft, denn einige von ihnen hatten behauptet, in Atlantis geboren zu sein. Atlantis - welch ein Name! Er hatte einmal eine Disco mit dem Namen gekannt, alles andere war reine Spekulation, wie er meinte.
Noch eine Zigarette zündete er sich an und schaute hinter der anderen Seite der Plakatsäule vor, um zu sehen, ob Lulu tatsächlich weggefahren war. Ihren Wagen sah er nicht mehr, und sein Kunde war ebenfalls nicht erschienen, was ihn ärgerte.
Sollte ihn der Kerl wieder einmal draufsetzen?
Unruhig und auch um seine kalten Füße etwas zu wärmen, ging er auf und ab. Er blieb in der Nähe der Säule, dämpfte seine Schritte so gut wie möglich - und blieb plötzlich stehen, weil er einfach das Gefühl hatte, stehenbleiben zu müssen.
Etwas war anders geworden, er spürte es genau. In seiner unmittelbaren Nähe musste sich einiges verändert haben. Über seinen Rücken rann eine Gänsehaut. Schnaufend holte er durch die Nase Luft, starrte nach vorn, wo er nichts sah, doch er spürte, dass sich in seinem Rücken etwas tat, was ihm überhaupt nicht passte.
Schlich jemand an ihn heran?
Baby-Jim drehte sich auf der Stelle. Der Mantel bildete in Höhe des Saums einen Kreis, und der Mann starrte schräg in die Höhe, gegen die Plakatsäule und über den oberen Rand hinweg.
Auf der runden Fläche stand eine düstere, unheimliche Horror-Gestalt!
Schwarz - alles an ihr war schwarz, düster und furchtbar. Wie die Gestalt auf die Säule gekommen war, konnte er auch nicht sagen, jedenfalls stand sie dort und wirkte, als müsste sie einfach dazugehören. Sie besaß kein Gesicht - oder doch? Es war wegen der über den Kopf gestreiften Kapuze - wenn überhaupt - nur undeutlich zu erkennen. Es gab keine Augen, keine Nase, keinen Mund, auch keine Ohren. Eine glatte, grauschwarze, leicht zitternde Fläche, die sich in den allgemeinen Eindruck gut hineinfügte.
Ob sich dort jemand verkleidet hatte? Automatisch stellte er sich die Frage und gab sich selbst die Antwort. Nein, das war nicht der Fall. Der Unheimliche war echt, er bedurfte keiner Verkleidung. So etwas spürte Baby-Jim.
Er dachte auch an Lulus Warnung. Sie hatte von den Schatten gesprochen, die im Eastend herrschten, die nie zu sehen waren, die es trotzdem gab, wie man wusste.
Jetzt sah er ihn!
Regungslos stand er auf der Säule. Nachtschwarz vom Kopf bis zu den Füßen, ein Zerrbild, eine Silhouette, ein furchterregendes Etwas, eine Gestalt, die ein schlimmes Versprechen ausströmte, ohne auch nur ein Wort zu sagen.
Baby-Jim ging zurück. Seine Schritte konnte man als unsicher bezeichnen. Er sah aus, als würde er jeden Moment in den Knien einknicken und hinfallen. Über die rot-violett
Weitere Kostenlose Bücher