Gebrauchsanweisung für die Welt
erschüttert im anderen nichts. Es gibt ganze Stadien voller Zeitgenossen, denen man Rilkes Liebesgedichte vorlesen könnte und kein einziger Seufzer wohligen Schwindels wäre zu hören. Auch kein Brüller der Begeisterung.
Blinde übersehen die Magie, Taube überhören die Chiffren der Einmaligkeit. Wer jedoch nichts versäumen will, sollte jeden Tag seine Empfindsamkeit trimmen, jene Befähigung, die mithilft, der Welt mit allem Seinem zu begegnen. Und wer wäre privilegierter als der Reisende, der die Welt besucht, einer, der jeden Tag nichts anderes zu tun hat, als sie anzuschauen und auszuhorchen? Hier ein paar Kostproben aus fünf Erdteilen. Beginnen wir mit A, wie Afrika.
Der magische Moment: Afrika 1
Fotograf Ken Oosterbroek und ich waren im Auftrag von GEO in Südafrika unterwegs. Um die »Temperatur« im Land zu messen, das kurz darauf Nelson Mandela zum Präsidenten wählen sollte. Heißes Land, heiß von Gewalt und Rache. Die Redneck-Weißen vor Ort waren an Demokratie nicht interessiert, sie liebten die über dreihundert Jahre alte Apartheid und verachteten den »Kaffer«, der ebenfalls Mensch sein wollte. So hetzten sie die Schwarzen aufeinander, finanzierten (schwarze) Todesschwadronen, um der Welt zu zeigen, dass der »Nigger« für ein zivilisiertes Zusammenleben nicht gemacht war. Am tätlichsten ging es in den Zügen zu, die von den Townships nach Johannesburg, dem Arbeitsplatz vieler, fuhren. Macheten schwingende Zulus marodierten auf der Jagd nach Anhängern des ANC, der Partei Mandelas.
An einem Vormittag, wir waren seit 5.15 Uhr unterwegs, sahen wir nur drei Leichen neben den Gleisen liegen. (Meist gab es mehr Tote.) Männer, die zuerst zerhauen und dann aus dem fahrenden Zug geschleudert worden waren. Wir selbst (Weiße!) genossen einen gewissen Schutz, aber an diesem Tag stürzten wir blitzartig ins Freie. Aus einem stehenden Waggon. Diesmal drohten ANC-Leute, denn sie hielten unsere Reporterausweise für Fälschungen, verdächtigten uns, der third force – der Deckname für die weißen Auftraggeber – zuzuarbeiten. Momente vor unserer Flucht hatte ich noch mit einem Passagier gesprochen, der mir seine safety boots gezeigt hatte. Echte Knobelbecher, an denen vorne aus der Spitze – via Schnapper am Absatz – je eine Stahlklinge schoss. Wie bei einem Springmesser. Paranoia ging um.
Um für ein paar Stunden den Krieg zu vergessen, nahmen wir einen Leihwagen und fuhren zur Tolstoi Farm , etwa dreißig Kilometer außerhalb von Joburg. Gandhi – er begann seine Karriere als Menschenfreund und junger Anwalt in Südafrika – hatte einst Grund und Boden von einem Deutschen geschenkt bekommen. Und ihn nach dem russischen Schriftsteller genannt, der wie er auf allen materiellen Besitz verzichtet hatte. Hier startete er seine »Satyagraha«-Feldzüge, seinen gewaltlosen Widerstand gegen die Übergriffe der britischen (und burischen) Kolonialherren.
Ken durchstreifte das Gelände, um zu fotografieren, ich ging mit Missis Joyce, der freundlichen Concierge, durch das Hauptgebäude. Großzügige Räume, einfach möbliert, sogar die Ahnung einer Bibliothek existierte noch. Ein Museum war geplant. Wunderbar still war es, kein Schuss knallte, niemand brüllte auf andere ein, wie im Märchen lag das schöne Land da. Man konnte nicht anders, als den einstigen Hausvorstand dafür verantwortlich zu machen. Noch achtzig Jahre später wehte hier sein versöhnlicher Geist. Wie ein Vermächtnis.
Ich ging hinaus und setzte mich unter einen Baum, eine Schirmakazie. Und kaum hatte ich mir einen Zigarillo angezündet, geschah das Wunder. Etwas absurd Lustiges, dabei vollkommen Unspektakuläres und dennoch Sensationelles: Eine Henne kam auf mich zu und stupste mit ihrem Kopf – nur Katzen machen das manchmal – an meinen rechten Oberschenkel. Als zärtliche Geste, zur Kontaktaufnahme. Und eiskalt nutzte ich die Gelegenheit und kraulte den Hennenhals. Und sie ließ es geschehen. Nein, geschnurrt hat sie nicht, auch nicht gegackert, nur – so ist zu vermuten – genossen.
Ich schluckte, so gerührt war ich. Denn zwischen der seit Tagen besichtigten Rohheit und der zärtlichen Geste der Henne lag ein Abgrund. Es handelte sich um einen phantastischen Vertrauensbeweis ihrerseits. Denn jeder Griff einer Menschenhand an den Hals eines Federviehs endet normalerweise mit dessen Tod. Gewiss hatte Gandhiji – Gandhilein, so sein Kosename – auch in diesem Moment seine Finger im Spiel. Denn noch nie
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