Das Washington-Dekret: Thriller (German Edition)
PROLOG
Sechzehn Jahre zuvor
Seit mindestens einer Stunde stand Pete Bukowski unter dem Schild an der Route 460 mitten in Wakefield und starrte in Richtung Jarratt. Das Röhren und Klappern des Buick konnte man immer schon von fern hören. Aber außer dem monotonen Quietschen des Ladenschilds von Plantation Peanuts im trockenen Wind blieb es still. Sein Vater würde heute also nicht kommen.
Enttäuscht scharrte der Junge mit dem Turnschuh im Sand. Er hatte schon oft hier auf seinen Vater gewartet, seit der im Greensville Correctional Center den Job übernommen hatte, die Beine der zum Tode Verurteilten am elektrischen Stuhl festzuzurren. Wenn das erledigt und der Dienst vorbei war, trafen sie sich immer vor dem Erdnussladen, und Pete durfte sich eine von den großen blauen Dosen mit der Nussmischung nehmen. Denn für den neuen Job bekam sein Vater einen Bonus, und so waren diese Tage in der Familie des Gefängnisbeamten Bukowski ganz besondere Tage, fast schon Feiertage. Und deshalb wussten die Kinder auch immer ganz genau, wer wann hingerichtet werden sollte.
In der Stadt kursierten seit Langem Witze, Gouverneur Jansen sei zu weich. Einige nannten ihn zu liberal, aber die Canasta-Gang aus Ivor sagte, er sei ein lächerliches, feiges Kommunistenschwein. Petes Vater konnte ihn auch nicht leiden, denn wenn Gouverneur Jansen die Hinrichtungen aufschob, bedeutete das für die Bukowskis Einkommenseinbußen. Und auch wenn der Gefangene nicht zum ursprünglich vorgesehenenZeitpunkt hingerichtet wurde, war Petes Vater tagelang kreidebleich vor Anspannung. Er verfluchte dann den Gouverneur, trank ein Budweiser nach dem anderen und brüllte alle an. Pete hasste diese Tage, und entsprechend hasste er auch Gouverneur Jansen. Dem würden sein Vater und die Canasta-Gang bei der nächsten Wahl bestimmt nicht ihre Stimme geben, und Petes bekam er auch nicht, falls sich jemals die Gelegenheit ergäbe.
Pete zählte die schweren Lastwagen aus Petersburg und versuchte an etwas anderes zu denken. Heute Abend gab es im Fernsehen ein Quiz, sein Vater liebte diese Sendungen. Da war ein Mädchen dabei, Doggie, das wusste alles. Pete lachte sich jedes Mal über ihren Namen kaputt. Aber Hauptsache, Doggie machte heute Abend ihre Sache gut, dann trank sein Vater vielleicht nicht so viel.
Er sah noch einmal in Richtung Norden und ging weg von dem Laden mit den leckeren Nussmischungen.
Die nächste Hinrichtung fand in einer Woche statt, und diesmal traf es einen, der es verdiente, das sagten alle. Einen von diesen Schwarzen, die nichts bereuen.
So lange konnte er auf die Dose mit der Nussmischung noch warten.
1
Im Herbst desselben Jahres
Doggie war zwar erst vierzehn, aber sie wusste, dass Märchen nicht nur einen schönen Anfang haben, sondern manchmal auch ein böses Ende nehmen. Ihr Märchen hätte kaum schlimmer ausgehen können.
Begonnen hatte es so: Das Büro von Gouverneur Jansen schlug dem größten Lokalsender Virginias eine neue Quizsendung vor. Dafür stellte man auch gleich etwas Startkapital zur Verfügung. Es sollte ein Länderquiz werden, bei dem man zunächst erraten musste, welche chinesische Stadt die meisten Einwohner hatte. Der Lokalsender stieg ein.
Unter den 48 Teilnehmern der ersten Runde war ein vierzehnjähriges Mädchen. Eine kleine Sensation! Nun galt es, vier Wochen lang die Spannung aufrechtzuerhalten, denn für das Wahlkampfbüro von Gouverneur Jansen sollten sich die finanzielle und die moralische Unterstützung der Show schließlich lohnen.
Die beiden ersten Sendungen wurden am Nachmittag ausgestrahlt, aber dann bekam die Show einen Sendeplatz zur Primetime. Die Presse schoss sich schnell auf das Schulmädchen mit dem reizenden Lächeln ein, das als mögliche Gewinnerin gehandelt wurde – und drei Viertel der Zuschauer in Virginia wanderten von den übrigen Fernsehsendern ab. Das war ein neuer Rekord. »Rund um die Welt« hatte sich zum reinsten Straßenfeger entwickelt. An Sendetagen stieg der Verkauf vonSnacks und Sixpacks in beachtliche Höhen. Die Fernsehleute jubelten über die Einschaltquoten.
Überall in Virginia wurden Wetten abgeschlossen. Alle hatten ihre Favoriten. Viele setzten auf den Sheriff aus einem der kleinsten Countys von Virginia, andere auf eine üppige Blondine mit Silikonbusen und passenden Hüften, aber die weitaus meisten wetteten auf die Jüngste aus der Runde, das Mädchen mit den Grübchen, Dorothy Curtis: Doggie.
Sie war schnell, sie wusste mehr als die meisten
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