Gebrauchsanweisung für Mecklenburg-Vorpommern und die Ostseebäder
Berlin das obligatorische: Ach, das ist doch eine Autobahnabfahrt. Genau. Durch Stralsund sind Sie womöglich schon mal durchgefahren. Es ist allerdings keine schnöde Autobahnabfahrt, sondern nicht weniger als das offizielle Tor zu Rügen, der Abfahrtshafen nach Hiddensee, Herberge eines Boris Becker Autohauses, die Stadt, die die Sanierung ihres Theaters mit Mitteln aus dem Verkauf des städtischen Krankenhauses finanziert hat, eine stolze Hansestadt mit vier Kirchen. Einmal überraschte mich ein Herr mit der Aussage: Ach, das ist doch die Stadt mit den rosa Häusern .
Nein, nein , entgegnete ich mit einer Note Überheblichkeit, also rosa Häuser sind da nicht. Da ist eher so Backstein, und der ist dunkelrot.
Ich war mir sicher gewesen, dass der Herr etwas verwechselte. Aber als ich wenig später zu Besuch in meiner Heimat war, schien mir, man hatte flugs jedes zweite Haus rosa gestrichen.
Seit wann ist denn hier alles so rosa und gelb , fragte ich meine Eltern.
Schon immer , sagten sie mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der sie mir früher weismachen wollten, unsere gezüchteten Kaninchen wären in die Freiheit gehoppelt und das Stück Fleisch, das kurz nach dem Freiheitsritt der Hasen auf meinem Teller landete, wäre ein altes glücklich gestorbenes Schwein. Nach einer längeren Unterhaltung unter Sturköppen konnten wir uns darauf einigen, dass sich die Stadt nach meinem Weggang farblich doch etwas verändert hatte. Grau wurde bunt. Aufbau Ost. Restaurierung. Sanierung. Fördermittel.
Allerdings musste ich auch gestehen, dass die Häuser schon eine ganze Weile rosa waren, ich es nur nicht bemerkt hatte. So ist das mit den Dingen, die man zu kennen meint. Man weiß ja gar nichts , wie meine Oma zu sagen pflegt. Ja, man weiß ja gar nichts. Und deshalb ist es mir auch unmöglich, Freunde aus der Fremde durch meine Stadt zu führen. Ich beanspruche zu diesem Zweck gerne meine Eltern. So auch, als meine französische Freundin Marie-Jo mit ihrem Mann zu Besuch war. Meine Eltern erklärten, dass das aus dem 13. Jahrhundert stammende St.-Katharinen-Kloster in seiner fast vollständig erhaltenen Anlage zu den größten fast vollständig erhaltenen Klosteranlagen Norddeutschlands gehört. Auch für das andere Kloster, das St. Johannis, hatten sie Zusatzinformationen parat, die ich, so gut ich konnte, übersetzte.
Marie-Jo, Marie-Jo, Tür, Tür , rief meine Mutter plötzlich und fuchtelte wild mit den Armen. Meine Freundin Marie-Jo lächelte und nickte. Sie spricht kein Deutsch und meine Eltern kein Französisch. Und erst jetzt sah ich, dass diese Tür, die ich viele Jahre jeden Morgen auf dem Weg zur Schule passiert hatte, ganz wunderwunderhübsch war. Lange Zeit waren mir weder die dunkelroten Klöster noch die rosafarbenen Kaufmannshäuser in meiner Stadt aufgefallen und erst recht keine aufwendig bemalten Türen.
Und was sich unter anderem noch verändert hat :
Die Volkswerft : Zu
DDR
-Zeiten waren 52
000 Arbeitnehmer bei den meck-pommerschen Werften beschäftigt, heute sind es circa 4600. Ziemlich abgespeckt ist, was das betrifft, auch die Stralsunder Volkswerft, deren riesengroße blaue Schiffshalle bei mir ein stärkeres Zuhausegefühl hervorruft als die Kirchtürme oder der Hafen. Zugelegt hat die Volkswerft wie die anderen meck-pommerschen Werften, was die Größe der Schiffe anbelangt. 2008 stand ich mit einem gelben Helm direkt vor diesem riesengroßen, fast 300 Meter langen Containerschiff. Ein unglaublicher Anblick, dem man nicht traut, wenn man schon Hunderte von streichholzschachtelgroßen Containerschiffen am Horizont hat entlangschippern sehen. Die modernsten und größten Containerriesen auf den Weltmeeren stammen aus meiner Heimat, an etlichen von ihnen hat mein Vater höchstpersönlich mitgearbeitet. Früher war die Eigentümerfrage der Volkswerft leicht zu beantworten, heute bin ich verunsichert, ob sie noch den Dänen gehört oder vielleicht, wie im Fall der Wismarer Werft, die Norweger einen Großteil schon an russische Investoren verkauft haben.
Die Sundpromenade : Wir haben zwar keine Strandpromenade, dafür aber eine Sundpromenade. Wer wissen möchte, wie der Hamburger fühlt, läuft einmal um die Alster herum, wer den Stralsunder verstehen will, sollte die Sundpromenade entlangspazieren, denn Gleiches tut der Einheimische tagaus, tagein. Gründe dafür gibt es viele. Als Kind muss er dort mit Mama oder Papa Schwäne füttern, als älteres Kind gelangt er via Sundpromenade
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