Gebrochene Schwingen
einem Lächeln. »So, meinst du, Fanny«, neckte ich sie, »wenn sie so heult wie jetzt, dann sieht sie so aus wie du gestern abend.«
Sogar Fanny mußte lachen.
»Ich besuch’ dich bald, Schwesterherz«, sagte sie. Dann mußte die Schwester sie zu ihrem Zimmer zurückfahren. »Und fahren Sie nicht so schnell. Ich möchte in die Zimmer hineinsehen«, erklärte ihr Fanny. »Das ist wie Fernsehen.«
Zehn Tage nachdem wir Annie heimgebracht hatten, saß ich gerade bei ihr am Bett und schaukelte sie, als Logan von der Fabrik nach Hause kam. Er war so begeistert von dem Kind, daß er oft die Fabrik verließ und, wie er das nannte, »Annie-Besuche« machte. Er kam dann schnell vorbei, nahm das Kind in den Arm oder sah ihm eine Weile beim Schlafen zu und ging dann wieder in die Fabrik zurück.
An diesem speziellen Nachmittag kam er die Treppe herauf und trug eine Schachtel in den Armen. Oben drauf war ein Schild, auf dem »zerbrechlich« stand.
»Was ist das?« fragte ich und schob das Kind in meinen Armen etwas höher, daß es aufrecht sitzen konnte.
»Ich weiß es nicht«, sagte Logan. »Es wurde gerade abgegeben.«
Er öffnete es, hob es vorsichtig aus seiner Verpackung und stellte es neben mich vor das Bett.
Es war eine perfekte kleine Nachbildung von Troys Haus.
Alles war da, sogar der Irrgarten dahinter.
»Das gibt’s doch nicht«, sagte Logan. »Sieh dir das an. Man kann das Dach abnehmen.«
Er nahm es herunter, da begann es, Troys Lieblingsstück von Chopin zu spielen. In dem Häuschen saß ein Mann auf dem Boden und hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt, wie Troy das zu tun pflegte. Daneben saß ein Mädchen, das aussah wie ich, damals, als ich das erste Mal in Farthy war. Alles war genau so wie damals: die winzigen Möbel, das Geschirr, sogar die Werkzeuge, um Spielzeug zu machen.
Nur Troy konnte das gemacht haben. Nur Troy. Er wußte es, er wußte, daß sie sein Kind war. Und er wollte mir zeigen, daß er es wußte. Auf diese Weise erhob er die Ansprüche auf seine Tochter. O Troy, wie ich wünschte, alles wäre anders! Die Spieldose war perfekt. So perfekt!
»Ich sehe keine Karte.« Logan unterbrach mich in meinen Gedanken. »Ist das nicht verrückt? Einer unserer Handwerker hat dieses erstaunliche Geschenk gemacht und vergessen, eine Karte dazuzulegen. Ich werde sehen, ob ich herausfinden kann, wer das gemacht hat. Wie sollen wir ihm sonst danken? Es ist fantastisch, findest du nicht, Heaven? Mit so viel Liebe zum Detail. Ich wette«, sagte Logan plötzlich, »daß Tony jemanden damit beauftragt hat. Vielleicht will er sich damit entschuldigen, hm?«
»Ja«, flüsterte ich. Ich konnte kaum reden, so überwältigt war ich von diesem Zeichen der immerwährenden Liebe Troys.
Logan dachte, ich sei von der Schönheit des Geschenkes so beeindruckt. »Könntest du Annie in die Wiege zurücklegen?«
flüsterte ich mit rauher Stimme.
»Sicher«, sagte er.
Er nahm mir das Kind aus den Armen und legte es zärtlich in die Wiege. »Ich bringe es nach unten«, sagte er und wollte das kleine Haus nehmen.
»Nein, es ist schon in Ordnung, Logan. Laß es hier. Ich möchte es noch eine Weile ansehen.«
»Sicher. Nun, ich muß jetzt in die Fabrik zurück. Wir sprechen uns dann später, in Ordnung?«
»In Ordnung.«
Er küßte mich auf die Wange und verschwand.
Wieder öffnete ich das Dach, und die magische Musik erfüllte den Raum. Eine Wolke, die bis jetzt die Sonne verdeckt hatte, zog weiter, und das warme Sonnenlicht strömte zum Fenster herein und beschien zärtlich die Miniaturhütte.
Eine der Türen zu meinen Erinnerungen öffnete sich, und wieder einmal hörte ich das leise Klingen eines Klaviers. Die Melodie wurde lauter und schien vom Wind getragen zu werden, der die Vorhänge am Schlafzimmerfenster zum Tanzen brachte. Ich sah zu dem blauen Himmel hinaus, als könnte ich verfolgen, wie die Musik ihren Weg nach Hause fand. Dann steckte ich das Dach wieder auf das Häuschen.
Ich würde das Spielzeug auf eines der Regale in Annies Zimmer stellen. Eines Tages, in vielen Jahren, würde ich ihr erklären, was für eine Bewandtnis es damit hatte. Ich war mir sicher, daß sie verstehen würde. Verstehen, warum ich das, was ich getan hatte, tun mußte. Ich würde ihr immer die Wahrheit erzählen. Denn die Wahrheit heilt alle Wunden.
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1. KAPITEL
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13.
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