Gedenke deiner Taten
ihren Blick sekundenlang auf Emily ruhen, tätschelte nochmals ihre Hand und stand auf.
»Okay«, sagte sie, »schön.«
Emily schaute Carol nach, die in der Küche verschwand, um zu überprüfen, ob alles für den Mittagsansturm bereit war. Am liebsten hätte sie Carol zurückgerufen. Sie wollte ihr beichten, dass sie das Studium abgebrochen hatte, dass es einfach nicht funktioniert hatte und sie sich im Herbst, wenn das Geld nicht mehr so knapp war und Dean sie nicht ständig beanspruchte, wieder einschreiben würde. Emilys Mutter wollte nicht länger für die Studiengebühren aufkommen, weil sie Dean nicht leiden konnte. Sie war dagegen, dass er und Emily zusammenwohnten. Und für Miete, Essen und Studiengebühren reichte Emilys Geld nicht.
Aber sie konnte es nicht erzählen, weil Carol weder ihre Mutter noch ihre Freundin war. Carol war ihre Chefin. Das durfte Emily nicht vergessen. Sie hatte schon einmal den Fehler gemacht, sich einem Arbeitgeber viel zu weit zu öffnen. Als sie dann aus einem fadenscheinigen Grund entlassen worden war, hatte es umso mehr geschmerzt. Und die anderen waren umso enttäuschter von ihr gewesen, weil sie versagt hatte. Anscheinend kam es immer so.
»Wenn du willst, übernehme ich die Mittagsschicht«, sagte sie. Carol drehte sich im Durchgang um. Sie schien zu überlegen. Emily brauchte das Geld, versuchte aber, nicht allzu beflissen zu wirken.
»Die habe ich Blanche gegeben. Aber danke trotzdem«, sagte Carol und machte eine Geste, als wollte sie Emily verscheuchen. »Du bist jung. Mach dir einen schönen Tag.«
Emily holte ihre Sachen aus dem Personalraum und verließ das Restaurant. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt, obwohl der Himmel an manchen Stellen blau war. Regen und Sonnenschein; Emily konnte keinen Regenbogen sehen. Eigentlich sollte Dean sie abholen. Sie hatte ihm ihr Auto geliehen und war am Morgen mit dem Bus zur Arbeit gefahren. Aber Dean war nirgendwo zu sehen. Welch Überraschung.
Emily lief ein paar Schritte und wartete an der Ecke. Sie hätte sich unter die Markise des Blue Hen stellen können, um nicht nass zu werden, aber sie wollte nicht, dass die anderen sie dort warten sahen – wieder einmal. Nach zwanzig Minuten machte sie sich auf den Weg zur Bushaltestelle.
Als sie im Bus saß, rief sie ihre Mutter an. Ihre Mutter sprach nicht mehr mit ihr, deswegen hinterließ Emily ihr täglich eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter.
»Hallo Mom«, sagte sie, »ich komme von der Arbeit und fahre jetzt mit dem Bus nach Hause. Dean hat ein Bewerbungsgespräch, dazu brauchte er mein Auto. Ich wollte dich für Sonntag zum Abendessen einladen. Die Wohnung sieht inzwischen sehr hübsch aus. Ich würde sie dir gern zeigen.«
Sie hielt inne, in der Hoffnung, ihre Mutter würde ans Telefon gehen. »Tja, dann. Ich hab dich lieb. Ruf mich an.«
Emily rechnete fest damit, dass ihre Mutter ihr Schweigen nicht ewig durchhalten würde, aber bislang war sie nicht eingeknickt. Bei ihrer letzten Begegnung hatten sie sich angeschrien. Oder hatte Emily geschrien?
»Mit dem Jungen stimmt was nicht«, hatte ihre Mutter gesagt. Sie hatte am Küchentisch gesessen und geraucht. Wann immer Emily an ihre Mutter dachte, hatte sie dieses Bild vor Augen: am Tisch, die Ellenbogen aufs Vinyl gestützt, starrte sie in die Ferne und rauchte. Nur deswegen konnte Emily den Geruch von Zigarettenqualm nicht ertragen.
»Mit ihm zusammenzuziehen war eine denkbar schlechte Entscheidung. Er wird dir wehtun. Wehe, du wirst schwanger, Emily! Dann ist dein Leben zu Ende.«
Martha eröffnete Emily, dass sie die Studiengebühren erst wieder bezahlte, wenn Dean auszog. Emily hatte dafür kein Verständnis. Warum nahm ihre Mutter ihr die Möglichkeit einer guten Ausbildung, wenn sie gleichzeitig der Meinung war, Dean zerstöre ihr Leben? Ihre Mutter hatte immer gesagt, eine gute Ausbildung sei der Schlüssel zum Erfolg. »Er soll von meinem Geld nichts haben.«
Es stimmte, im letzten Semester hatte Emily ein Seminar ausfallen lassen und Dean den Erstattungsbetrag gegeben. Martha hatte nur davon erfahren, weil die Universitätskasse ihr eine Abrechnung geschickt hatte. Daran hatte Emily nicht gedacht. Durchdachte Planung war nie ihre Stärke gewesen. Dean hatte das Geld gebraucht; wofür, wusste sie nicht. Aber er hatte damals wirklich verzweifelt gewirkt. Außerdem war es ohnehin nur ein Filmseminar gewesen, eine freiwillige Veranstaltung, die sie für ihren Abschluss als Erzieherin nicht
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