Gedenke deiner Taten
brauchte.
Beim letzten Besuch bei ihrer Mutter hatte Emily geschrien: » Er liebt mich!« Es war, als stünde sie neben sich, verwundert darüber, wie groß ihr Zorn und ihr Hass geworden waren. Normalerweise wurde Emily nie laut. Aber diesmal hatte sie das Gefühl, es zerreiße ihr die Brust.
» Du bist nur eifersüchtig, weil niemand dich jemals so geliebt hat wie er mich!«
Ihre Mutter war sitzen geblieben, hatte die Wand angestarrt und ungerührt weitergeraucht. Sie sah alt und müde aus, verbraucht. Nichts fürchtete Emily mehr, als an so einem Küchentisch zu enden – ausgemergelt, vom Leben besiegt, gleichgültig.
Die alte Dame, die im Bus neben ihr saß, tätschelte ihr Knie und reichte ihr ein Taschentuch, das Emily gedankenverloren nahm. Da erst merkte sie, dass sie weinte.
»Danke«, flüsterte Emily und trocknete sich die Augen.
»Ist gar nicht einfach, jung zu sein«, sagte die Frau. Sie trug einen schicken, dunkelblauen Regenmantel und hatte silbergraues Haar. Ihre Hand zitterte leicht. »Ich kann mich noch gut daran erinnern. Man will so viel.«
»Wird es irgendwann leichter?«
Die alte Frau schmunzelte und legte ihre weiche, trockene Hand auf Emilys.
»Nein, Schätzchen, eigentlich nicht.«
Na super , dachte Emily.
ZWEI
W ie geht es los? Wann fängt das Leben an? Wie entwickelt man sich vom Kind, das zur Schule, zum Spielen, zum Einkaufen chauffiert wird, zu einem jungen Erwachsenen, der studiert und arbeiten geht? Wie wird aus einer Berufsanfängerin, die zum ersten Mal mit ihrem Zukünftigen ausgeht, eine zweifache Mutter, die abends in der Küche am Laptop sitzt und Rechnungen bezahlt? Geht ein Ereignis, eine Entscheidung aus der nächsten hervor, so dass man irgendwann vor vollendeten Tatsachen steht? Wie geht es los, fragte Chelsea sich, wenn sie ihre Mutter beobachtete, und wie wird es enden ?
»Das ziehst du nicht an.«
Als Chelsea die Treppe heruntergekommen war, hatte ihre Mutter nicht hingesehen, sie hatte den Blick nicht einmal flüchtig von den Unterlagen gehoben. Woher wusste sie, was Chelsea trug – einen schwarzen Minirock, kniehohe Stiefel, einen lila Strickpulli, der nicht einmal ihren Bauchnabel verdeckte? Obwohl ihre Worte weder böse noch empört klangen, duldete sie keinen Widerspruch. Ende der Diskussion. Chelsea wusste instinktiv, dass alles Jammern, Betteln und Heulen nichts bringen würde.
»Na gut«, sagte sie gleichmütig. Sie machte auf dem Absatz kehrt und stieg die Treppe wieder hinauf.
Chelsea hatte ohnehin keine Lust auf den Kurzpulli gehabt. Sie mochte ihre Taille nicht, fand sie dick und schwabbelig. Sie hätte sich unwohl gefühlt und sich den ganzen Nachmittag die Arme vor den Bauch gehalten. Anders als Lulu, deren Figur beneidenswert perfekt war. Das Mädchen hatte kein Gramm Körperfett. Sie bewegte sich wie eine Katze, in vollem Einklang mit dem Universum. Alles an ihr – Haut, Augen, Lippen, Brüste – war makellos. Neben ihrer alten Kindergartenfreundin fühlte Chelsea sich wie ein Trampel. Sie durchwühlte ihren Schrank, musterte und verwarf ein Jeanshemd, ein rosa bedrucktes T-Shirt und das gekreppte Blümchentop, das ihre Großmutter geschickt und das Chelsea nie getragen hatte. Was würde Lulu heute anziehen?
Lulu aß fast nichts und qualmte wie ein Schlot. Dann wiederum war sie nicht die Hellste. Nein, das stimmte nicht ganz. Obwohl Chelsea ihr regelmäßig bei den Hausaufgaben half (manchmal erledigte sie sie) und Lulu kaum ein Wort richtig buchstabieren konnte, war sie auf ihre eigene Art äußerst clever. Mit Mathe und Englisch konnte sie nicht viel anfangen, dafür kannte sie sich mit Dingen aus, die Chelsea völlig fremd waren. Lulu machte sich nichts aus der Schule.
Lulus hervorstechendste Eigenschaft: Sie hatte eine scharfe Zunge. Warum waren alle schlanken, schönen Menschen immer so gemein? Woher nahmen sie diese Sicherheit? Und trotz ihrer Durchtriebenheit rissen alle sich um solche Menschen. Woran lag das? Viele Fragen, ein reißender Strom aus Fragen, auf die Chelsea keine Antwort wusste. Zu viele Fragen.
Chelsea zog ihre Lieblingstunika aus weichem blasslila Stoff vom Kleiderbügel und schlüpfte hinein. Auf einen Schlag fühlte sie sich erleichtert und entspannt. Ihr Outfit war nichts Besonderes, es war weder cool noch sexy, dafür aber auch nicht öde oder peinlich. Damit würde sie auf keinen Fall die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Auch nicht auf ihr unscheinbares, durchschnittlich hübsches Gesicht, ihr
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