Gefaehrliches Verlangen
ohne wirklich etwas zu essen. Wenn das in diesem Rhythmus weiterging, würde sie bald nur noch aus Haut und Knochen bestehen, wahrscheinlich schon bevor die Grippezeit vorbei war. Die Grippediät nannte ihre Mutter diesen Zustand.
»Was ist es für ein Notfall?«, fragte Kate und ging schneller, um mit June mithalten zu können. Mit ihren fünfundfünfzig Jahren war die Oberschwester so agil wie eine Zwanzigjährige.
»Wir haben eine Schusswunde.«
»Wie schlimm?«
»Wir sind uns noch nicht sicher. Letties Kind ist krank geworden und sie musste weg -«
»Was? Und wer ist dann bei dem Patienten?«
»Nanc y.«
Mist. Kate fing fast an zu rennen. Nancy war eine Krankenschwester im ersten Jahr. Sie gab sich sehr viel Mühe, aber sie brauchte noch eine Menge Hilfe und sollte nie alleine sein, ohne eine erfahrene Krankenschwester bei sich zu haben.
»Dann weißt du ja jetzt, warum wir dich so dringend brauchen«, sagte June trocken und Kate, deren Puls sich beschleunigte, nickte zustimmend.
Das war genau der Grund dafür, dass sie Krankenschwester geworden war — weil sie den Gedanken mochte, gebraucht zu werden und Menschen zu helfen. Eine gute Krankenschwester konnte den Unterschied zwischen Leben und Tod machen, besonders in der Notaufnahme. Manchmal war es eine sehr große Verantwortung, aber das störte Kate nicht. Sie mochte das schnelle Arbeitstempo in der Notaufnahme. Die zwölf Stunden vergingen wie im Fluge. Am Ende ihrer Arbeitstage war sie jedes Mal so erschöpft, dass sie kaum noch laufen konnte, aber sie war gleichzeitig sehr zufrieden.
In der Notaufnahme war einiges los, als Kate eintrat. Kate näherte sich einem der durch Stoffwände voneinander abgetrennten Betten, öffnete die Vorhänge und sah das Schussopfer auf der Pritsche liegen. Er war ein großer Mann, hoch gewachsen und breitschultrig. Seinem Aussehen nach war er der kaukasisch-europäische Typ. Sie schätzte, dass sein Alter bei etwa Ende zwanzig oder Anfang dreißig lag. Er hatte eine Sauerstoffmaske auf und war schon an den Herzmonitor angeschlossen. Er hing am Tropf und schien bewusstlos zu sein.
Nancy, die Schwester im ersten Jahr, übte Druck auf seine Wunde aus, um die Blutung zu stoppen. Es standen noch zwei weitere Männer neben ihm, aber Kate beachtete sie kaum, da sie sich auf ihren Patienten konzentrierte.
Sie bildete sich schnell einen Überblick über die Situation, wusch sich ihre Hände und machte sich an die Arbeit. Der Puls des Patienten war kräftig und er schien auch keine Schwierigkeiten beim Atmen zu haben. Kate kontrollierte seine Pupillen, sie sahen normal aus und reagierten unauffällig auf Lichtveränderungen. Es gab glücklicherweise auch eine Austrittswunde. Wäre die Kugel im Körper geblieben, hätte sie weiteren Schaden anrichten können und eine Operation wäre auf jeden Fall notwendig gewesen. Ein CT hatte gezeigt, dass die Kugel knapp das Herz und andere kritische Organe verfehlt hatte. Zwei Zentimeter weiter und der Mann würde sich jetzt in einem Leichensack, anstatt auf diesem Bett befinden. So wie es aussah, war die größte Herausforderung die Wunde zu reinigen und die Blutung zu stoppen.
Kate machte sich keine Gedanken über die Hintergründe des Schusses. Das gehörte nicht zu ihrem Job. Ihre Aufgabe war es, sein Leben zu retten, ihn zu stabilisieren bis der Arzt kam. In Fällen wie diesem — wirklich lebensgefährlichen Notfällen — würde der Arzt schnell zu dem Patienten kommen. Alle anderen Patienten der Notaufnahme mussten gewöhnlich um einiges länger warten.
Als Dr. Stevenson erschien, erklärte sie ihm, was dem Patienten fehlte und brachte ihn auf den letzten Stand seiner Vitalfunktionen. Dann assistierte sie ihm, als er die Wunde nähte und verband.
Schließlich war der Zustand des Opfers stabil und es war mit Beruhigungsmitteln versorgt. Wenn keine unvorhergesehenen Komplikationen auftraten, würde der Mann leben.
Kate zog sich ihre Handschuhe aus und ging zum Waschbecken, um sich ihre Hände erneut gründliche zu reinigen. Diese Gewohnheit war so tief in ihr verankert, dass sie gar nicht mehr darüber nachdachte. Sobald sie sich im Krankenhaus befand, wusch sie sich die Hände, wann immer sie eine Gelegenheit dazu bekam. Viel zu viele tödliche Infektionen bei Patienten waren auf die unzureichende Hygiene des Pflegepersonals oder des Arztes zurückzuführen.
Während das warme Wasser über ihre Hände lief, ließ sie ihren Kopf von einer Seite auf die andere kreisen um die
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