Geh aus, mein Herz
sie hatte zugehört. Lange hatte er sich bei einem Ereignis in einem Sommer aufgehalten, als drei Kinder ihn voreinander und vor anderen erniedrigt hatten.
In dem Augenblick erinnerte er sich nicht genau daran, aber er meinte sicher zu sein, dass es vor anderen geschehen war.
Ein Mädchen war dabei gewesen. Ein Mädchen war dabei gewesen, nie hatte ihn das alles losgelassen.
Sie kannten ihn von dem Ort, wo er früher gewohnt hatte, aber er hatte sie nicht erkannt. »Wir haben dich schon mal gesehen«, sagten sie. Sie hatten ihn entkleidet und geschnitten und gesagt: » Nächstes Mal nehmen wir dir alles, du Sau « , und sie hörte die Erregung in seiner Stimme.
Dann hatten sie etwas mit ihm gemacht, was er ihr das nächste Mal erzählen würde.
Es war der Gipfel eines teuflischen Sommers gewesen, der ihn nie mehr losgelassen hatte. Niemals mehr war er ruhig geworden. Es war ihm anzumerken gewesen, als er zu dem Ort zurückkehrte, in dem er damals gewohnt hatte. Alle hatten es gesehen, es war wie in jenem Sommer geworden, vielleicht nicht ganz genauso – nur fast.
Danach hatten sie sich in alle Winde zerstreut. »Jetzt nehmen wir uns den Bruder vor«, hatten zwei von denen gesagt, und das waren die zwei, die in der Stadt wohnten, in der er früher gewohnt hatte. Dann war es passiert und er wusste es.
Er wusste, was passiert war.
Das war sein Leben. Jetzt war er ruhiger, oder? Wollte sie etwas zu trinken haben?
»Ja – bit…«
Wieder sah Kajsa Lagergren seine Konturen, und noch einmal, als er ihr Wasser brachte, sich bückte, sie beim Trinken stützte.
Sie sank zurück auf die Decken.
»Sie könnten sich mit an… ander…« Ihre Stimme wurde immer langsamer und schwächer.
»Mit anderen? Warum?«
»Das wäre gut – für Sie.«
»Mir geht es gut.«
Er sagte etwas, was sie nicht verstand, bemerkte eine Bewegung hinter sich und spürte, dass seine Angst zugenommen hatte. Doch dann kam seine Stimme:
»Jetzt ist ja alles besser.«
»Nein, das ist es nicht. Es ist schlimmer. Sie sehen – ich habe eine Lungenentz… Sie hören doch, dass ich kaum spre… sprechen kann.«
»Dann ruhen Sie sich aus.«
»Sie müssen mir zuhören … Sie haben alles … was … nö… tig ist.«
»Nein.«
»Sie sollten …«
»Sie können mir nicht helfen.«
»Ich kann Ihnen helfen. Machen Sie mich los.«
»Nein.«
»Wollen Sie nicht, dass es Ihnen bess… Das wollen Sie … doch.«
»Ich bin doch ganz ruhig, oder?«
»… werden nie wieder ruhig, wenn Sie mir nicht … helf… dass ich Ihnen helfen kann.«
»Ich bin ruhig, oder ?!«
»Machen Sie mich los, helfen Sie mir. Sie sind der Einzige, der das … kann.«
»Eben haben Sie gesagt, ich bin nicht ruhig.«
»Jetzt sind Sie ruhig … Helfen Sie mir … Alles wird … gut.«
»Sie reden mit mir, als ob ich ein Kind wäre.«
»Entschuldigung. Ich hab keine – Kraft. Sie können mich nicht hier … lie… liegen lassen.«
»Sie liegen doch gut.«
»… bin genau wie Sie da … mals. Ich bin unschul… Ich bin verle…«
»Nein.«
»… das nicht zu tun. Ich kann nicht … wie andere wer…«
»Ich verstehe Sie nicht.«
Sie merkte, dass ihre Stimme versagte, das Geräusch ihrer Lungen war lauter als ihre Stimme. Sie hörte ihn hinter sich.
»… helf… helfen Sie mir, bitte … Bringen Sie mich hier ww… Ich bin nicht …«
Er antwortete nicht, sie hörte wieder ein Kratzen und von der Seite seine Stimme, die sich entfernte:
»… besser so. Es ist gut so.«
Da geht der Tod, dachte sie, der kommt und geht. Jetzt ist es zu Ende, dachte sie, ein Bild im Kopf: wie ihr Vater in seinem wiegenden Gang um den Härlanda See wandert, an einem frühen Morgen, wenn die Feuchtigkeit Schleier über die Wasseroberfläche wirft.
32
Sie hatte die Sirene eines Polizeiautos gehört, versucht, sich daran festzuklammern, als das Auto irgendwo da unten oder hinter dem Haus vorbeifuhr, aber sie reichte nicht weit. Jetzt hatte sie nicht mehr viel Kraft. Kajsa Lagergren hatte ein paar Blutspritzer bemerkt, als sie eben gehustet hatte, und jetzt hustete sie wieder und verlor das Bewusstsein und hustete.
Ich bin ein zäher Braten, hatte sie vorher noch gedacht. Einige Minuten Klarheit. Eine Lungenentzündung war insofern gut, da die Hustenanfälle sie noch eine kurze Weile vor dem Koma bewahren würden. Es gibt immer auch etwas Positives, dachte sie, selbst in Wohnungen im Schatten des Todes. Sie hatte auch versucht, sich die Wahrscheinlichkeit auszurechnen, dass
Weitere Kostenlose Bücher