Geheime Melodie
Onkel, meiner Vettern zweiten Grades, Großtanten und Halbbrüder oder -schwestern.
Die Tochter eines Dorff ührers, mein Sohn , flüsterte mein Vater durch seine Tränen, als ich ihn um Einzelheiten bestürmte, die mir helfen sollten, mir ein Bild von ihr zu machen, von dem ich in späteren Jahren zehren könnte. Ich hatte unter seinem Dach Aufnahme gefunden. Sie kochte f ür uns und brachte mir mein Waschwasser. Ihre Freigebigkeit war es, die mich überwältigte. Er setzte schon längst keinen Fuß mehr auf die Kanzel, er hatte allem verbalen Feuerzauber abgeschworen. Dennoch entfachte die Erinnerung nun ein paar Funken in der schwelenden Glut seiner irischen Beredsamkeit: So hochgewachsen, wie du einmal sein wirst, mein Sohn! So schön wie Gottes gesamte Schöpfung! Wie im Namen des Heilands kann jemand behaupten, du seist in Sünde geboren? Du bist in Liebe geboren, mein Sohn! Es gibt keine Sünde außer dem Haß!
Die Strafe, die meinem Vater von der Heiligen Kirche auferlegt wurde, fiel zwar weniger drakonisch aus als bei meiner Mutter, aber streng war sie auch. Ein Jahr in einer jesuitischen Bu ßanstalt außerhalb von Madrid, zwei weitere als Arbeiterpriester in einem Slum in Marseille, dann erst durfte er zurück in den Kongo, den er wider alle Vernunft so liebte. Und wie er es deichselte, ist mir ein Rätsel, und dem Herrgott wahrscheinlich auch, aber an irgendeiner Kehre seines dornigen Pfads beschwatzte er das katholische Waisenhaus, in dessen Obhut ich mich befand, mich ihm zu überlassen. Von da an begleitete der halbblütige Bastard Salvo ihn überallhin, versorgt von Kinderfrauen, die gar nicht alt und nicht häßlich genug sein konnten. Der Sprößling eines verstorbenen Onkels, hieß es zunächst. Später: Altardiener und Ministrant – bis zu dem bereits erwähnten schicksalhaften Abend meines zehnten Geburtstags, an dem er mir, sich seiner Sterblichkeit und meines Heranwachsens gleichermaßen bewußt, sein nur allzu menschliches Herz ausschütte te, was ich bis zum heutigen Tag als das gr ößte Kompliment nehme, das ein Vater seinem ungeplanten Sohn machen kann.
* * *
Die Jahre, die auf den Tod meines seligen Vaters folgten, waren nicht leicht f ür den verwaisten Salvo, vornehmlich deshalb, weil die weißen Missionare meine Anwesenheit als steten Stachel in ihrem Fleische empfanden; daher auch mein Swahili-Spitzname mtoto wa siri, das Kind, das es nicht gibt. Nach afrikanischer Überzeugung tragen wir den Geist unseres Vaters und das Blut unserer Mutter in uns, und das war mein Problem in aller Kürze. Wäre mein seliger Vater schwarz gewesen, hätte man mich vielleicht als Übergepäck geduldet. Aber er war weiß durch und durch, was immer die Simba dachten, und ein weißer Missionar produziert keinen Nachwuchs, Punkt. Das Kind, das es nicht gab, durfte den Priestern bei Tisch und am Altar dienen und auf ihre Schule gehen, aber sobald ein kirchlicher Würdenträger gleich welcher Farbe am Horizont auftauchte, ab mit ihm ins Dienstbotenquartier, wo es sich versteckt zu halten hatte, bis die Luft wieder rein war. Was nicht heißen soll, daß ich den Patres ihren Kleinmut verüble – sowenig wie das gelegentliche Übermaß ihrer Wertschätzung, denn anders als mein seliger Vater beschränkten sie sich, wenn sie sich ihrer verdrängten fleischlichen Gelüste annahmen, auf das eigene Geschlecht, wie zu sehen an Père André, unserem Redner vor dem Herrn, der mich mit mehr Aufmerksamkeit bedachte, als ich so recht verkraften konnte, oder an P ère François, der André als seinen speziellen Freund betrachtete und an diesem Aufblühen der Zuneigung Anstoß nahm. In unserer Missionsschule derweil genoß ich weder die Ehrerbietung, die unserer Handvoll weißer Kinder zuteil wurde, noch die Kameradschaft, die unter meinen schwarzen Altersgenossen herrschte. Kein Wunder also, daß es mich zu dem niedrigen Ziegelbau zog, in dem die Bediensteten wohnten und der, ohne daß die Patres dies ahnten, der wahre Dreh- und Angelpunkt unserer Gemeinde war, Herberge aller vorbeiziehenden Wandersleute und Nachrichtenbörse für einen Umkreis von vielen Meilen.
Und dort, zusammengerollt auf einer Holzpritsche neben dem gemauerten Kamin, lauschte ich mit angehaltenem Atem den Erz ählungen nomadischer Jäger, Medizinmänner, Zauberspruch-Verkäufer, Krieger und Ältester, mucksmäuschenstill, damit man sich ja nicht meiner entsann und mich ins Bett schickte. Und dort keimte auch meine Liebe zu den vielen Sprachen
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