In Einer Zaertlichen Winternacht
Kapitel 1
Stillwater Springs, Montana
20. Dezember 1910
Der
Ladentresen von Willands Gemischtwarenladen, in dem es nach Sattelleder und
Holzrauch duftete, schien zu schwanken, als Juliana Mitchell mit angehaltenem
Atem davorstand.
Der Brief war endlich angekommen.
Der Brief,
auf den Juliana gewartet, den sie sehnlichst erhofft und nach dem sie, ihren
Stolz herunterschluckend, immer wieder gefragt hatte. Gleichzeitig hatte sie
sich schrecklich vor ihm gefürchtet.
Ihr Herz
machte einen schmerzhaften kleinen Satz, während sie den Umschlag aus Mr
Willands ausgestreckter Hand nahm. Die Handschrift, ein geneigtes Gekrakel in
schwarzer Tinte, gehörte definitiv ihrem Bruder Clay. Der Brief war in Denver
abgestempelt worden.
In der
Ferne kündigte der vom Schnee gedämpfte Pfiff die Ankunft des Zuges aus
Missoula an, der nur einmal in der Woche unterwegs in Richtung Süden durch die
Stadt fuhr.
Juliana
spürte die Anwesenheit ihrer vier Schützlinge, die an der Ladentür warteten,
weil sie wussten, dass sie hier nicht gern gesehen waren. Sie drehte sich vom
Tresen und Mr Willands missbilligendem Blick weg, bevor sie das beeindruckende
rote Wachssiegel aufbrach.
Bitte,
Gott, betete sie stumm, bitte!
Nachdem sie
einmal tief Luft geholt und sie langsam wieder ausgestoßen hatte, biss Juliana
sich auf die Lippe und nahm das gefaltete Papier aus dem Kuvert.
Ihr wurde
schwer ums Herz, ihr Blick verschwamm.
Das Geld,
das sie so dringend brauchte und um das sie ihren Bruder gebeten hatte, war
nicht in dem Umschlag. Geld, das von Rechts wegen ihr gehörte, ein Teil des
Vermögens, das ihre Großmutter ihr hinterlassen hatte. Sie konnte also keine
Zugtickets für sich und die vier Kinder kaufen. In das indianische Schulheim,
in dem sie alle in den letzten zwei Jahren gelebt hatten, konnten sie auch
nicht zurück, da es sich nicht mehr im Besitz des Staates befand. Das kleine,
aber robuste Gebäude war an einen Bauern verkauft worden, der seine Kühe darin
unterbringen wollte.
Die Hitze
aus dem bollernden Ofen in der Mitte des Geschäfts, die sie nach der Kälte
draußen noch als so angenehm empfunden hatte, raubte ihr jetzt die Luft zum
Atmen.
Trotz allem
spürte sie kurz eine verrückte Hoffnung in sich aufsteigen. Vielleicht war doch
nicht alles verloren, vielleicht hatte Clay der Post nur nicht vertraut und das
Geld telegrafisch angewiesen. Womöglich wartete es genau in diesem Augenblick
im Telegrafenamt etwas weiter die Straße hinunter auf sie.
Als sie
begriff, dass sie sich an einen Strohhalm klammerte, begannen ihre Augen zu
brennen. Schnell blinzelte sie die Tränen weg und zwang sich zu lesen, was ihr
älterer Bruder und Vormund geschrieben hatte.
Meine
liebste Schwester,
ich
hoffe, du bist wohlauf.
Nora,
die Kinder und ich sind bei guter Gesundheit. Deine Nichte und dein Neffe
fragen immerzu nach dir, so wie auch bestimmte andere Leute.
Ich
bedauere, dass ich dir das Geld, um das du mich gebeten hast, nicht guten
Gewissens zukommen lassen kann, aus Gründen, die dir wohlbekannt sein dürften
...
Juliana zerdrückte das teure
Pergamentpapier in der Hand. Ihr wurde übel vor Enttäuschung und dieser
frustrierenden Hilflosigkeit, die sie immer verspürte, wenn sie mit ihrem
Bruder zu tun hatte.
»Geht es
Ihnen gut, Miss?«, hörte sie eine Männerstimme fragen, leise aber deutlich.
Erschrocken
schaute Juliana auf. Direkt vor ihr stand ein großer Mann. Seine Haare und
Augen waren dunkel, die runde Hutkrempe und die Schultern seines langen Mantels
mit Schnee bestäubt.
Während er
höflich auf ihre Antwort wartete, nahm er den Hut ab, hängte ihn an die Lehne
eines Holzstuhls und lächelte.
»Mein Name
ist Lincoln Creed«, sagte er ein wenig ruppig, aber trotzdem freundlich. Er
streckte ihr die Hand entgegen, nachdem er seinen Lederhandschuh abgestreift
hatte.
Juliana
zögerte, ergriff dann doch seine Hand. Schließlich wusste sie, wer er war. Die
Creeds besaßen die größte Rinderfarm in diesem Teil des Staates und den Stillwater
Springs Courier. Sie kannte seinen Bruder Weston, dem die Tageszeitung
gehörte. Außerdem hatte sie die Witwe Creed ein paarmal getroffen, die
Matriarchin der Familie. Lincoln selbst aber war sie bisher nie begegnet.
»Juliana
Mitchell«, erwiderte sie mit einer perfekten Mischung aus Bescheidenheit und
Höflichkeit. Sie hatte immerhin eine gute Erziehung genossen. Schließlich war
sie in einem der vornehmsten Häuser in Denver aufgewachsen, hatte importierte
Seide und
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