Geheime Versuchung
verfolgten ihn, und er würde die Schar der Geister nicht um einen einzigen mehr erweitern.
Doch als er jetzt den Mund öffnete, sagte er nur: »Mir geht es gut.« Eine automatische Reaktion, in den Jahrzehnten ausgebildet, die er im Käfig von Silentium verbracht hatte. »Ich würde Tyler gerne sehen.« Er griff nach Laras Hand, denn er brauchte jetzt ihre Berührung.
Doch sie verschränkte die Arme.
Er erstarrte und hörte kaum, was sie sagte, so sehr rauschte das Blut in seinen Ohren. »Tyler freut sich sicher über Besuch.«
»Was ist denn los?« Erst einmal hatte Lara sich ihm entzogen, und das war während ihrer turbulenten Werbung gewesen und hatte ihn damals in tiefe Verzweiflung gestürzt. Heute schoss Wut in ihm hoch. Denn so etwas tat sie nur, wenn sie verletzt war. Doch sie erzählte ihm nicht, was es war. »Lara.«
»Du tust es schon wieder«, flüsterte sie schließlich. Zorn und Schmerz in ihrer Stimme schnitten ihm ins Herz. »Ich weiß genau, dass du wütend bist, und doch spüre ich es nicht.« Sie schlug mit der Faust auf ihre Brust. »Da sehe ich immer nur das ruhige Bild, mit dem du verhinderst, dass ich merke, was in dir los ist.« Eine Träne rollte über ihre Wange. »Warum tust du das?«
Schon ihre ersten Worte hatten ihn so vollkommen gelähmt, dass ihm der verirrte Fußball willkommen war, der sein Bein traf. Er zuckte zusammen, schoss den Ball zurück und ergriff Laras Arm, bevor sie weggehen konnte. »Du wusstest doch, wer ich war, als ich anfing, um dich zu werben.« Wenn sie ihn nicht so annahm, wie er war, würden die Brüche in ihm niemals heilen.
»Und du wusstest, wer ich bin.« Bernsteinfarbene Wolfsaugen im braunen Gesicht. »Ich bin nicht so zart. Ich breche nicht zusammen, wenn du mir deinen Schmerz, deine Wut und deine Sorgen zeigst.«
Es war wie ein Schlag gegen die Brust. »Ich habe dir Sachen erzählt, die niemand sonst weiß.« Er wollte schreien, klang aber ganz ruhig.
»Stimmt.« Tränen glänzten in ihren Augen, sie konnte nur noch flüstern. »Und es bedeutet mir unsagbar viel, dass du deine Geheimnisse mit mir geteilt hast. Mehr als alles auf der Welt.«
Die Worte ließen seine Panik schwinden, doch nur zum Teil. »Aber warum dann?« Warum wandte sie sich ab und riss ihm das Herz aus der Brust?
»Es reicht nicht, nur die Vergangenheit zu kennen, wenn du mich in der Gegenwart ausschließt. In unserer Gegenwart«, sagte sie sanft. »Ich muss an deiner Seite sein, muss dich beschützen, wie du mich beschützt. Ich kann es nicht ertragen, ausgeschlossen zu werden, wenn ich genau spüre, dass dich etwas schmerzt.«
Das Herz schlug ihm bis zum Hals, ihm wurde erst heiß und dann wieder kalt. »Und wenn ich nicht so offen sein kann?« Zu früh hatte er lernen müssen, sich ständig unter Kontrolle zu haben, seine Gefühle zu verstecken, vor allem in angespannten Situationen.
»Nein, Walker.« Sie sagte es laut, und die Locken, die sich aus der Spange gelöst hatten, schimmerten im orangeroten Abendlicht, als sie den Kopf schüttelte. »So einfach darfst du es dir nicht machen, du musst es wenigstens versuchen. Ich weiß besser als jeder andere, was du mit deinem starken Willen erreichen kannst.«
10
Walker wusste nicht, wie ihm Lara begegnen würde, als er am Abend nach einem Treffen mit Rudelgefährten nach Hause kam. Mütter, Lehrer, Ausbilder und andere »Aufpasser« kamen regelmäßig zusammen, damit alle Jungen die Aufmerksamkeit bekamen, die sie brauchten. Er war mit den Gedanken diesmal nicht ganz dabei gewesen, hätte die Einsamkeit vorgezogen, doch er hatte sich beherrscht, denn im Augenblick waren diese Treffen noch notwendiger als vor der Schlacht.
Weil so viel zu besprechen gewesen war, war es spät geworden, und es war schon still in der Wohnung, als er heimkam. Er schaute in Marlees Zimmer, die mit weit ausgestreckten Armen und Beinen schlief. Der Anblick rief ein stilles Lächeln auf seinem Gesicht hervor. So hatte sie schon als kleines Kind geschlafen. Auch Silentium hatte das nicht verändern können, als die Familie noch im Medialnet gewesen war.
Er deckte sie wieder zu, küsste die weiche, warme Wange, klopfte dann leise bei Toby an und wartete, bis er hereingebeten wurde. In Tobys Alter brauchte man eine Privatsphäre, woran sich Walker ständig erinnern musste, denn Toby würde für ihn stets der kleine Junge seiner Schwester bleiben, auf den er aufpassen sollte.
»Hi.« Sein Neffe legte den Spionageroman zur Seite. Auf dem digitalen
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