Die Kunst des klugen Handelns: 52 Irrwege, die Sie besser anderen überlassen (German Edition)
VORWORT
Der Papst fragte Michelangelo: »Verraten Sie mir das Geheimnis Ihres Genies. Wie haben Sie die Statue von David erschaffen – dieses Meisterwerk aller Meisterwerke?« Michelangelos Antwort: »Ganz einfach. Ich entfernte alles, was nicht David ist.«
Seien wir ehrlich. Wir wissen nicht mit Sicherheit, was uns erfolgreich macht. Wir wissen nicht mit Sicherheit, was uns glücklich macht. Aber wir wissen mit Sicherheit, was Erfolg oder Glück zerstört. Diese Erkenntnis, so einfach sie daherkommt, ist fundamental: Negatives Wissen (was nicht tun) ist viel potenter als positives (was tun).
Klarer zu denken, klüger zu handeln bedeutet, wie Michelangelo vorzugehen: Konzentrieren Sie sich nicht auf David, sondern auf alles, was nicht David ist, und räumen Sie es weg. In unserem Fall: Entfernen Sie alle Denk- und Handlungsfehler, und ein besseres Denken und Handeln wird sich von alleine einstellen.
Die Griechen, Römer und mittelalterlichen Denker hatten einen Namen für dieses Vorgehen: Via Negativa . Wörtlich: der negative Weg, der Weg des Verzichts, des Weglassens, des Reduzierens. Es war die Theologie, die als Erste die Via Negativa beschritt: Man kann nicht sagen, was Gott ist, man kann nur sagen, was Gott nicht ist. Auf die heutige Zeit angewandt: Man kann nicht sagen, was uns Erfolg beschert. Man kann nur sagen, was Erfolg verhindert oder zerstört. Mehr muss man auch nicht wissen.
Als Firmengründer und Unternehmer bin ich selbst in eine Vielzahl von Denkfallen getappt. Ich konnte mich zum Glück immer noch daraus befreien, aber wenn ich heute Vorträge halte (aus unerfindlichen Gründen neuerdings »Keynotes« genannt) vor Ärzten, Vorständen, Aufsichtsräten, Managern, Bankiers, Politikern oder Regierungsmitgliedern – dann fühle ich mich ihnen verwandt. Ich habe das Gefühl, im selben Boot mit meinen Zuhörern zu sitzen – versuchen wir doch alle, durch das Leben zu rudern, ohne von den Strudeln verschluckt zu werden. Theoretiker haben Mühe mit der Via Negativa . Praktiker hingegen verstehen sie. So schreibt der legendäre Investor Warren Buffett über sich und seinen Partner Charlie Munger: »Wir haben nicht gelernt, schwierige Probleme im Geschäftsleben zu lösen. Was wir gelernt haben: sie zu vermeiden.« Via Negativa .
Auf Die Kunst des klaren Denkens folgt nun also Die Kunst des klugen Handelns . Sie fragen: Worin unterscheiden sich Denk- von Handlungsfehlern? Die ehrliche Antwort: eigentlich gar nicht. Ich brauchte einen neuen Buchtitel für die folgenden 52 Kapitel, und dieser erschien mir passend. Die Texte stammen wiederum aus den Kolumnen, die ich für die Zeit , die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Schweizer SonntagsZeitung geschrieben habe. Nimmt man beide Bücher zusammen, sind die wichtigsten 100 Denkfallen nun aufgedeckt.
Mein Wunsch ist ein ganz einfacher: Wenn es uns allen gelänge, die wichtigsten Denkfehler zu vermeiden – sei es im Privatleben, im Beruf oder im politischen Entscheidungsprozess –, resultierte ein Quantensprung an Wohlstand. Kurzum: Wir brauchen keine zusätzliche Schlauheit, keine neuen Ideen, keine Hyperaktivität, wir brauchen nur weniger Dummheit. Der Weg zum Besseren führt über die Via Negativa . Michelangelo hatte dies erkannt, und vor ihm schon Aristoteles: »Das Ziel des Weisen ist nicht Glück zu erlangen, sondern Unglück zu vermeiden.« Jetzt ist es an Ihnen, sich in die Schar der Weisen einzureihen.
Rolf Dobelli, 2012
WARUM SCHLECHTE GRÜNDE OFT AUSREICHEN
Begründungsrechtfertigung
Stau auf der Autobahn zwischen Basel und Frankfurt. Belagsanierung. Ich regte mich auf, quälte mich eine Viertelstunde lang im Schritttempo auf der Gegenfahrbahn vorwärts, bis ich den Stau endlich hinter mir hatte. Hinter mir glaubte. Eine halbe Stunde später stand ich wieder still, wieder wegen Belagsanierung. Aber komischerweise regte ich mich jetzt nicht mehr groß auf. Neben der Straße standen in regelmäßigen Abständen Schilder: »Wir sanieren die Autobahn für Sie.«
Der Stau erinnerte mich an ein Experiment, das die Harvard-Psychologin Ellen Langer in den 70er-Jahren durchführte. In einer Bibliothek wartete sie, bis sich vor dem Kopierer eine Schlange gebildet hatte. Dann fragte sie den Vordersten: »Entschuldigen Sie. Ich habe fünf Seiten. Würden Sie mich bitte vorlassen?« Nur selten gab man ihr den Vortritt. Sie wiederholte das Experiment, aber diesmal gab sie einen Grund an: »Entschuldigen Sie. Ich habe fünf Seiten. Würden
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