Geisterfahrer
das gesamte Familienleben ziemlich an einem Mangel an Herzlichkeit litt, euphemistisch gesagt. Ich erlebte nie, dass meine Pflegeeltern Frank und Mark herzten, in den Arm nahmen oder gar küssten. Eine gewisse Distanziertheit hing über allem, was in unserer Dreizimmerwohnung geschah. Streicheln über den Kopf angesichts eines guten Zeugnisses war die zärtlichste Geste, die ich bei dieser Familie je erlebte.
Einmal in der Woche marschierte Jens auf die Polizeiwache und gab das Material ab. Es waren Listen, dicke Umschläge mit Fotos, Aufzeichnungen aller kleinen Vergehen, die bei uns in der Nachbarschaft begangen wurden, und das waren verdammt viele. Manchmal, wenn wir mit ihm unterwegs waren, musste er einen von uns nach Hause schicken, um einen neuen Film für die Kamera zu holen, oder ein weiteres Notizbuch.
»Um diese Zeit darf man nicht den Rasen mähen. Los, Frank, wir haben nicht viel Zeit«, sagte er, ohne von seiner Armbanduhr aufzusehen, und schon spurtete mein Pflegebruder los, um einen neuen Kleinbildfilm zu holen.
»Was passiert mit diesen Leuten?«, fragte Frank einmal, als er keuchend zurückkam, während wir von der anderen Straßenseite jemanden beim Ölwechsel beobachteten.
»Sie bekommen ihre gerechte Strafe«, sagte Jens, dabei nickte er, wie er nickte, wenn Erik Ode mit zwingender Argumentation den Neffen der verstorbenen Erbtante als Täter überführte. Und er lächelte. Jens lächelte nicht oft.
»Kommen sie ins Gefängnis?«, fragte ich, und ich dachte dabei an die eine Mark, die wir nicht zurückgegeben hatten. Das übereilt der Psychologin gegenüber abgegebene Geständnis verfolgte mich immer noch, mehr sogar, seit ich Bestandteil dieser gesetzesliebenden Familie war. Von denen kannte noch keiner die Verbrechen meiner Kindheit.
»Das kann passieren«, sagte Jens nickend. »Wer ein Verbrechen begeht, der kommt ins Gefängnis. Dafür sind Gefängnisse da. Wir nennen sie Justizvollzugsanstalten.« Ich schauderte, merkte mir das Wort »Justizvollzugsanstalt« und hoffte, meine sich rotglühend anfühlenden Ohren würden mich nicht verraten.
»Du bekommst deine gerechte Strafe«, war eine Formulierung, die sehr bedrohlich in unseren Ohren klang und die wir genau deshalb, ohne sie vollständig zu begreifen, beim Spielen auch oft benutzten. Im Hof des siebenstöckigen Hauses war Frank der Cowboy, ich der Indianer und der arme kleine Mark immer die Squaw. Frank nahm alle Arten von Spiel sehr ernst, und er vermied es, mit uns Dinge zu unternehmen, die ihn dazu nötigten, seine dicke Brille abzunehmen; deshalb spielten wir auch nie mit anderen Kindern. Der drei Jahre jüngere Mark stand im Schatten seines großen Bruders, den er auf eine seltsame Art zu fürchten schien, obwohl ich niemals Gewalt zwischen den beiden erlebte; es schien eher eine freiwillige Unterordnung zu sein. Ich war etwas wie ein Freund, kein Familienmitglied, aber ich hatte meine klare Position in der Hierarchie – gerade noch über Mark. Weder Frank noch Mark oder gar Jens und Ute nannten mich jemals Bruder oder Sohn, wie ich auch immer, wenn ich versehentlich etwas Derartiges sagte, sofort korrigiert wurde. In problematischen Situationen benutzen Jens und Ute meinen Nachnamen, den sie dann besonders betonten:
»Tim Köhrey , das ist jetzt unangemessen«, sagten sie, den Nachnamen laut hervorhebend. Und irgendwann übernahmen Frank und Mark das auch, schließlich hießen sie anders.
»Tim Köhrey , du bist gefangen!«, rief Frank, kam um den Baumstamm herum, hinter dem ich mich versteckt hatte, und zielte mit der Knallplättchenpistole auf meine Stirn. Nie aufs Herz, immer auf die Stirn.
4. Erbe
In den nächsten vier, fünf Jahren bekamen wir gelegentlich Besuch von fremden Paaren, die zuerst mit Jens und Ute und anschließend mit mir sprachen – meistens nur sehr kurz. Die Leute saßen nebeneinander auf der Couch im Wohnzimmer, ich gegenüber auf dem Sessel, von dem aus Jens abends fernsah, er und nur er. Sie fragten mich Dinge wie: »Gehst du gerne in die Schule?« oder: »Was ist dein Lieblingsspiel? Magst du Tiere?«, wobei sie sich gegenseitig die Hände drückten, ab und zu merkwürdige Blicke wechselten.
»Was sind das für Leute?«, fragte ich Ute nach dem zweiten Besuch dieser Art.
»Paare, die ein Kind adoptieren möchten«, sagte sie. »Aber du bist ihnen zu alt.«
»Zu alt wofür?«
»Das weiß ich auch nicht. Sie wollen jüngere Kinder.«
An meinem zwölften Geburtstag ging Jens mit mir in den Keller
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