Geisterreigen
1.
Anno 1796
Die Kirchturmuhr hatte gerade sieben geschlagen, als Peter Cook von der Arbeit auf den Feldern kam. Er warf seinen Kittel ab und begann sich gründlich am Brunnen im Hof zu waschen. Seine Schwester Mary, die vor der Küchentür saß und das Sonntagskleid der sechsjährigen Lucy ausbesserte, beobachtete ihn belustigt. Sie ahnte, daß er sich nach dem Abendessen mit der Tochter des Müllers treffen wollte.
Der junge Mann griff nach dem groben Handtuch, das über dem Brunnenrand lag, trocknete sich ab und zog das Hemd an, das Mary kurz zuvor aus dem Haus gebracht hatte. "Wie weit bist du mit dem Essen, Mutter?" rief er in die Küche.
Mrs. Cook legte noch etwas Holz nach. "In einer halben Stunde können wir essen, Peter", erwiderte sie. Müde strich sie mit beiden Händen an ihrer grauen Schürze hinunter. Sie war seit dem Morgengrauen auf den Beinen, hatte erst ihren Dienst bei den Rowlands abgeleistet und sich dann am späten Nachmittag um den eigenen Haushalt gekümmert.
"Wo steckt Lucy?" Peter ließ sich auf die Bank vor der K üchentür fallen und begann geschickt an einem Holzpferdchen zu arbeiten. Während der letzten Wochen hatte er bereits einen ganzen Korb voller Spielsachen geschnitzt. Er wollte sie am nächsten Marktag in Barnstaple verkaufen.
"Lucy ist mit einigen der anderen Kinder in die Beeren gega ngen", antwortete Mrs. Cook, während sie in dem Topf rührte, der vor ihr auf dem Herd stand. "Sie wird sicher bald kommen. Deine Schwester hat noch nie eine Mahlzeit versäumt."
"Ich mag es nicht, wenn die Kinder alleine im Wald sind", b emerkte Peter und runzelte die Stirn. Er warf einen Blick nach Rowland Castle hinauf, dessen graues Gemäuer die Umgebung beherrschte. "Wir dürfen nicht vergessen, daß während der letzten Jahre immer wieder kleine Mädchen verschwunden sind. Was heißt verschwunden? Wir wissen schließlich, daß..."
"Willst du wohl still sein, Peter", herrschte ihn seine Mutter e rschrocken an. "Wenn dich jemand hört." Mrs. Cook senkte die Stimme zu einem Flüstern: "Dich würde man einsperren und uns von Haus und Hof verjagen." Sie trat vor die Tür und legte eine Hand auf die Schulter ihrer ältesten Tochter. "Such Lucy, Mary", befahl sie. "Bring sie nach Hause."
Mary nickte. Sie stand auf und legte ihre Näharbeit auf den Schemel. Seit sie vor zwölf Jahren vom rechten Vorderhuf eines durchgegangenen Pferdes getroffen worden war, konnte sie nicht mehr sprechen. Tagelang hatte sie nach dem Unfall bewußtlos im Bett gelegen. Die Rowlands, denen das Pferd gehörte, hatten es nicht einmal für nötig befunden, einen Arzt zu ihr zu schicken. Sie war der Obhut einer alten Frau überlassen worden, da ihre Mutter nicht eine einzige freie Stunde bekommen hatte, um sich um sie zu kümmern.
Das junge Mädchen schlug den Weg zum Wald ein. Unterwegs begegneten ihm einige der Kinder, mit denen Lucy mitgegangen war. Mary blieb stehen. Sie konnte nicht nach ihrer Schwester fragen, aber die Kinder verstanden sie auch so, als sie mit der Hand erst auf sich wies und dann Lucys Größe zeigte.
"Lucy ist noch auf der Lichtung", sagte Peggy, eine vorwitzige Fünfjährige. Sie nagte an ihrem la ngen Zopf.
"Lucy hat die ganze Zeit nur gespielt. Ihr Eimer ist noch fast leer gewesen, als wir gegangen sind", fügte die etwas ältere Maud hinzu. "Wir haben ihr gesagt, daß sie mitkommen soll, aber sie wollte erst noch ein paar Beeren pflücken."
Das sah Lucy ähnlich. Obwohl Peter und ihre Mutter sie immer wieder davor warnten, alleine im Wald zu bleiben, dachte sie nicht daran zu gehorchen. Warum konnte Lucy nie tun, was von ihr verlangt wurde?
Während die Kinder singend ihren Weg ins Dorf fortsetzten, eilte Mary weiter. Sie machte sich große Sorgen um ihre kleine Schwester. Solange Lucy in der Gesellschaft der anderen Kinder blieb, konnte nichts passieren, aber nun war sie völlig alleine im Wald. Sicher würde es auch bald dunkel werden.
Das junge Mädchen ahnte, weshalb Lucy behauptet hatte, erst noch Beeren pflücken zu müssen. Vor einigen Tagen war eine Märchenerzählerin im Dorf gewesen und hatte von Elfen und Feen gesprochen, die bei Dunkelheit im Wald tanzten. Bestimmt wollte ihnen Lucy beim beim Tanzen zuschauen.
Mary glaubte nicht an Elfen und Feen, genauso wenig wie an Zwerge und Kobolde. Doch die Existenz des Teufels zweifelte sie nicht an. Jeder in Alberry kannte ihn. Er hieß Charles Lord Ro wland und lebte mit seiner Familie hoch über dem Dorf auf Rowland Castle.
Weitere Kostenlose Bücher