Geliebter Lord
sie väterlich behandeln würde, und er war ihr sowohl Lenker als auch Lehrer gewesen. Nur, dass er sie auch leidenschaftlich begehrte, hatte sie in ihrer Unschuld nicht vorhergesehen. Er hatte sie stets in ihren Interessen unterstützt, so auch schließlich in ihrem Interesse für Medizin.
Mary setzte sich auf die Bettkante und begann, ihren Zopf zu lösen. Jeden Abend, wenn sie das tat, dachte sie an ihren Ehemann. Gordon hatte es geliebt, ihr zuzusehen, wenn sie anschließend ihr Haar bürstete.
»Es ist ein Anblick, der das Herz eines alten Mannes wärmt, meine Liebste.«
Sie lächelte voller Zuneigung, als sie sich an die Liebe erinnerte, mit der er sie überschüttet hatte, doch dann wanderten ihre Gedanken wie jedes Mal zu der Zeit, als Gordon sich so bestürzend verändert hatte.
Manchmal war es nicht klug, die Vergangenheit aufleben zu lassen.
Nachdem Mary sich bettfertig gemacht hatte, legte sie sich die Decke um die Schultern, setzte sich mit dem Rücken zur Wand auf ihr Bett und wünschte, die Schatten um die Truhe und die Tür herum würden nicht wie kauernde Tiere aussehen. Wie töricht sie doch manchmal sein konnte. Aber sie fühlte sich einsam und allein in diesem abgelegenen Castle und haltlos, wie seit Monaten nicht mehr. Lag es daran, dass sie fern von Inverness war, fern von ihren Freunden? In diesem Augenblick erschien die Welt ihr wie ein feindlicher Ort und sie sich darin klein und unbedeutend.
Sie zog die Knie an die Brust und schlang die Arme darum. Eigentlich hätte sie todmüde sein müssen, aber ihr Verstand war hellwach. Sie dachte an Hamish MacRae zwei Stockwerke über ihr. Es mochte ja sein, dass die Gefangenschaft ihn zum Menschenfeind gemacht hatte, aber warum lehnte er sogar seinen Bruder ab?
Er wurde gefoltert.
Was hatte man ihm angetan? Und warum wollte er ihr nicht erlauben, ihn zu behandeln?
Natürlich konnte sie einem Menschen nicht ihren Willen aufzwingen – das hatte Gordon sie gelehrt.
Eines Tages, als sie von der Behandlung eines kranken Kindes zurückkehrte, hatte Charles sie mit vorwurfsvoller Miene empfangen. »Gordon geht es nicht gut.«
Sie hängte ihren Umhang auf und sah den Lehrling ihres Ehemanns scharf an. »Es geht ihm nicht gut?«
»Es geht ihm oft nicht gut, Mary, aber er will nicht, dass Ihr es erfahrt.«
Mary war zu Gordon geeilt, hatte sich zu ihm auf die Bettkante gesetzt und die Hand auf seine Stirn gelegt. Sie war feucht gewesen, das Gesicht bleich, fast wächsern, und der Mund bläulich verfärbt.
»Ich verspreche dir, ich werde dich nie wieder allein lassen, Gordon«, schwor sie, von Schuldgefühlen getrieben.
Er öffnete seine blauen Augen. Sie waren verhangen, fast so, als hätte er bereits begonnen, sich körperlich von ihr zu entfernen.
»Das darfst du nicht sagen, Mary«, protestierte er mit schwacher Stimme. »Natürlich wirst du mich wieder allein lassen. Wenn die Menschen krank sind, brauchen sie dich. Ich bin nur ein einziger Mann, aber ganz Inverness braucht dich.«
»Nicht ganz Inverness, mein Liebster«, hatte sie mit einem kleinen Lächeln widersprochen. »Nur ein Kranker hie und da.«
»Versprich mir, dass du nicht um meinetwillen zu Hause bleibst.« Er umklammerte ihre Hand, und Mary hatte besorgt festgestellt, dass seine Finger eiskalt waren.
Sie nickte, und er schien beruhigt.
Zwei Monate war er krank, weigerte sich jedoch, im Bett zu bleiben. Jeden Abend verabreichte sie ihm einen Trank, aber er half ihm nicht. Nichts, was Mary tat, bewirkte eine Besserung. Als Gordon starb, veränderte sich ihre Welt, in der sie so sicher und behütet gewesen war, von einem Tag zum anderen auf traurige Weise.
»Was soll ich tun?«, fragte sie die Zimmerdecke und schalt sich im nächsten Moment töricht, weil sie ihren verstorbenen Mann um Rat gebeten hatte. Gordon hatte jedwede Art von Abenteuer missbilligt. Seiner Überzeugung nach wurde jedem Menschen bei der Geburt eine bestimmte Rolle zugewiesen, und die musste er sein Leben lang spielen.
Er war Goldschmied gewesen, hatte das Handwerk als junger Mann erlernt wie Charles später bei ihm, sein Talent für die Arbeit mit Edelmetallen kultiviert und war höchst zufrieden in seinem Beruf gewesen. Bis aus Edinburgh waren Kunden gekommen, um Gordons Kunstwerke zu kaufen, Trinkbecher mit ziselierten aufgerichteten Löwen und Greifen am Rand oder kleine Silberdöschen mit herausgearbeiteten Disteln auf dem Deckel.
Gordon hatte gewollt, dass Charles das Geschäft übernähme, aber
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