Geliebter Tyrann
der dünne Stoff ihres Kleides und Nicoles Gegenwart waren insgesamt die Folgen der Französischen Revolution. Bianca suchte sich noch eine Praline heraus und beobachtete die junge Französin, die stumm im Zimmer umherging und die Kleidungsstücke aufräumte, die Bianca über den Fußboden verstreut hatte. Nicole war für Bianca der Beweis, wie großzügig sie und alle Engländer waren. Als viele Franzosen aus ihrem eigenen Land hinausgeworfen wurden, hatten die Engländer sie bei sich aufgenommen. Natürlich hatten sich diese Franzosen größtenteils selbst ernähren können; tatsächlich hatten sie sogar eine Neuheit in England eingeführt, die man Restaurant nannte. Aber es waren auch andere gekommen, Leute wie Nicole - ohne Geld, ohne Verwandte, ohne Beruf. Und da hatte sich England von seiner großzügigsten Seite gezeigt, indem es diese heimatlosen Menschen von der Straße in seine Häuser holte.
Bianca war zu einem Hafen an der Ostküste gefahren, wo ein Schiff mit Flüchtlingen erwartet wurde. Sie war in keiner guten Stimmung gewesen. Ihr Vater hatte sie soeben davon in Kenntnis gesetzt, daß seine Mittel nicht mehr ausreichten, um ihre Kammerzofe zu bezahlen. Es hatte einen schrecklichen Auftritt zwischen den beiden gegeben, bis sich Bianca an die Emigranten erinnerte. So war sie, ihrer Eingebung folgend, in die Hafenstadt gefahren, um diesen armen, heimatlosen Franzosen zu helfen. Vielleicht entdeckte sie einen Flüchtling, den sie mit ihrer Wohltätigkeit beglücken konnte.
Als sie Nicole erspähte, wußte sie, daß sie gefunden hatte, was sie suchte. Sie war zierlich, hatte ihre schwarzen Haare unter einem Strohhut versteckt, besaß enorm große braune Augen in einem herzförmigen Gesicht, die von kurzen, dichten schwarzen Wimpern beschattet wurden. Aus diesen Augen sprach große Traurigkeit. Sie sah aus, als wäre es ihr egal, ob sie lebte oder tot wäre. Bianca wußte, daß eine Frau, die so aussah, sehr dankbar sein würde für ihre Großzügigkeit.
Jetzt, drei Monate später, bedauerte Bianca fast alles, was sie an Nicole getan hatte. Nicht, daß dieses Mädchen nicht anstellig gewesen wäre; tatsächlich war es fast zu anstellig. Zuweilen gaben die anmutigen Bewegungen und die Leichtfüßigkeit ihrer Zofe Bianca das Gefühl von plumper Schwerfälligkeit.
Bianca blickte auf den Spiegel zurück. Was für ein absurder Gedanke! Ihre Figur war majestätisch, imponierend- jeder sagte ihr das. Sie warf Nicole im Spiegel einen bösen Blick zu und zog ein Band aus ihrem Haar.
»Mir gefällt die Frisur nicht, die du mir heute morgen gemacht hast«, sagte Bianca, lehnte sich im Sessel zurück und naschte noch einmal aus der Pralinenschachtel.
Schweigend ging Nicole zur Frisierkommode hinüber und kämmte Bianca das ziemlich dünne Haar. »Sie haben noch nicht den Brief von Mr. Armstrong geöffnet.« Ihre Stimme war ruhig, ohne Akzent, und sie bemühte sich, jedes Wort sorgfältig auszusprechen.
Bianca winkte kurz ab. »Ich weiß, was er mir zu sagen hat. Er will wissen, wann ich nach Amerika komme und ihn heirate.«
Nicole kämmte eine der Locken über ihren Finger. »Ich möchte meinen, daß Sie dafür ein Datum festsetzen sollten. Ich weiß doch, Sie würden gern heiraten.«
Bianca blickte sie im Spiegel an. »Wie wenig du doch verstehst! Aber man kann natürlich nicht von einer Französin erwarten, daß sie den Stolz und die Empfindlichkeit einer Engländerin versteht. Clayton Armstrong ist Amerikaner! Wie könnte ich, eine Nachfarin der Peers von England, einen Amerikaner heiraten!«
Nicole befestigte sorgfältig das Band um Biancas Kopf. »Das begreife ich nicht Ich dachte, Sie hätten Ihre Verlobung schon bekanntgegeben.«
Bianca warf das obere leere Fach ihrer Pralinenschachtel auf den Boden und nahm sich ein großes Stück von der unteren Schicht. Karamel war ihr Lieblingsnaschwerk. Mit vollem Mund begann sie zu erklären: »Männer! Wer versteht sie schon? Ich muß heiraten, wenn ich diesem hier entrinnen will!« Mit einer Handbewegung deutete sie auf die Wände des kleinen Zimmers. »Doch der Mann, den ich heirate, wird sich von Clayton erheblich unterscheiden. Ich habe gehört, daß es unter den Männern in den Kolonien einige geben soll, die einem Gentleman nahekommen, wie dieser Mr. Jefferson. Aber Clayton ist weit davon entfernt, ein Gentleman zu sein. Weißt du, daß er im Salon seine Reitstiefel anbehält? Als ich ihm vorschlug, er solle sich ein Paar Seidenstrümpfe kaufen, lachte er
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