Geliebter Tyrann
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Im Juni des Jahres 1794 standen die Rosen in voller Blüte, und der Rasen hatte jenes üppige Grün, das man nur in England kennt, ln der Grafschaft Sussex stand ein kleines, quadratisches zweistöckiges Haus, ein von einem niedrigen Eisenzaun umgebenes schlichtes Gebäude. Dieses Haus hatte einmal zu einem größeren Komplex gehört; es war eines der Nebengebäude für die Familie des Gärtners oder des Wildhüters gewesen; doch man hatte den Besitz schon lange aufgeteilt und verkauft, damit die Eigentümer, die Familie Maleson, ihre Schulden bezahlten konnten. Alles, was von dieser vormals so großen Familie noch existierte, waren dieses kleine, vernachlässigte Haus, Jacob Maleson und seine Tochter Bianca.
Jacob Maleson, ein gedrungener, korpulenter Mann, saß in diesem Augenblick im Salon des Erdgeschosses vor dem leeren Kamin - die Weste aufgeknöpft, die sich sonst über der mächtigen Wölbung seines Leibes spannte, und den Rock achtlos über einen anderen Stuhl geworfen. Seine plumpen Beine umspannte eine schwarze Tuchhose, die ihm knapp über die Knie reichte, wo sie mit Messingschnallen befestigt war; seine Waden bedeckten Baumwollstrümpfe, seine Füße quollen aus dem dünnen Leder schwarzer Pumps. Ein großer, verschlafener Irischer Setter lehnte sich gegen eine Armstütze des alten Backensessels, und Jacob kraulte ihm die Ohren.
Jacob hatte sich inzwischen an sein schlichtes ländliches Dasein gewöhnt. Tatsächlich gefiel ihm das Leben in einem kleineren Haus mit weniger Dienstboten und geringerer Verantwortung besser. Das Herrenhaus, in dem er noch als Kind gewohnt hatte, war nur eine Platzvergeudung gewesen, es hatte seinen Eltern zuviel Zeit und Energie gestohlen. Nun hatte er seine Hunde, ein ordentliches Stück Fleisch zum Dinner, genügend Einnahmen, um seine Ställe in Schuß zu halten, und das reichte ihm.
Seiner Tochter reichte es nicht.
Bianca stand in ihrem Schlafzimmer im ersten Stock vor dem hohen Spiegel und strich das lange Musselinkleid über ihrem plumpen Körper glatt. Jedesmal, wenn sie sich in der neuen französischen Mode betrachtete, hatte sie einen Anfall von übler Laune. Die französischen Bauern hatten sich gegen die Aristokratie erhoben, und jetzt, da diese schwächlichen Franzmänner ihrer Untergebenen nicht mehr Herr wurden, mußte die ganze Welt dafür büßen. Alle Länder blickten auf Frankreich und sorgten sich, ob ihnen nicht etwa das gleiche passieren konnte. In Frankreich wollte jedermann so aussehen, als gehöre er zu dem gemeinen Volk; daher waren Satin und Seidenstoffe praktisch verpönt. Die neue Mode bestand aus Musselin, Kaliko, Batist und Perkal.
Bianca studierte sich im Spiegel. Natürlich standen ihr die neuen Gewänder vorzüglich, aber was würden die anderen Frauen machen, die nicht so vorteilhaft ausgestattet waren wie sie? Das Gewand war vom tief ausgeschnitten, mit einer tiefen Furche zwischen ihren großen Brüsten, die wenig von der Form und der weißen Haut verhüllte. Eine blaßblaue indische Gaze über dem Musselin war mit einem breiten Band aus blauem Satin knapp unter ihrer Büste zusammengerafft, und von dort fiel das Gewand in geraden Bahnen bis zum Fußboden hinunter und endete in einem Saum aus Fransen. Biancas dunkelblonden Haare waren aus dem Gesicht gekämmt und von einem Band zusammengehalten; dicke wurstförmige Locken hingen über ihre bloße Schulter herab. Ihr Gesicht hatte eine runde Form, ihre Augen waren so blaßblau wie ihr Kleid, mit hellen Brauen und Wimpern; ihr pinkfarbener kleiner Mund glich einer knospenden Rose, und wenn sie lächelte, erschien ein winziges Grübchen auf ihrer linken Wange.
Bianca wechselte von ihrem Wandspiegel zur Frisierkommode hinüber. Sie war, wie fast alles in diesem Raum, mit blaßrosa Tüll dekoriert. Sie liebte es, sich mit Pastelltönen zu
umgeben, und hatte überhaupt eine Vorliebe für das Sanfte, Zierliche und Romantische.
Auf der Frisierkommode stand eine große Pralinenschachtel, deren obere Schicht fast abgeräumt war. Sie blickte hinein und zog auf eine für sie typische Art die Nase kraus. Mit diesem schrecklichen französischen Krieg war auch die Fabrikation der besten Pralinen eingestellt worden, und nun mußte sie sich mit zweitklassiger englischer Schokolade begnügen. Sie zupfte sich eine Praline heraus, dann eine zweite. Als sie bei der vierten angelangt war und sich ihre zarten Finger ableckte, sah sie Nicole Courtalain ins Zimmer kommen.
Die minderwertige Schokolade,
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