Geloescht
Tag.
»Mummy and Daddy werden dich nicht holen, Lucy. Sie wollen dich nicht. Sie haben dich weggegeben und du wirst sie nie mehr wiedersehen.«
Weil ich friere, ziehe ich die Decke fester um meinen Körper. Der Stoff fühlt sich falsch an, ganz kratzig. Nichts ist so, wie es sein sollte, sogar die Luft ist merkwürdig â es riecht komisch. Salzig wie die Luft am Meer, das ich bislang nicht gesehen habe.
Ich umschlinge das Kissen und drücke mein Gesicht fest hinein, um die Stimme nicht mehr hören zu müssen. Aber sie verschwindet nicht.
»Sie haben dich weggegeben und du wirst sie nie mehr wiedersehen.«
»Hey, wie läuftâs?« Ben hat sein charmantestes Lächeln aufgesetzt, und ich will ihm erzählen, dass ich tatsächlich etwas unternommen und mit Phoebes Mutter gesprochen habe. Sogar von dem Traum gestern Nacht möchte ich ihm berichten. Er ist der Einzige, dem ich davon erzählen würde, aber wie würde er ihn interpretieren? Doch wenn mich meine Eltern weggegeben hätten und mich nicht mehr wollten, warum würden sie mich dann als vermisst melden?
»Ist alles in Ordnung?«, hakt Ben noch mal nach.
Ich zucke nur mit den Schultern und scanne meine Karte, bevor wir in den Biounterricht gehen. Was kann ich ihm bei so vielen Schülern um uns herum schon erzählen?
Wir setzen uns auf unsere Plätze hinten auf der mittleren Bank. Aber uns erwartet eine Ãberraschung: Miss Fern ist nicht da.
Stattdessen steht vor der Klasse ein Mann, den ich noch nie gesehen habe. Er sitzt der Klasse zugewandt auf dem Lehrerpult und beobachtet die Schüler dabei, wie sie zu ihren Plätzen gehen. Bald wird Geflüster unter den Mädchen laut â was nicht verwunderlich ist, denn er ist unheimlich attraktiv. Sein gelocktes blondes Haar, seine GröÃe und die Art, wie sich seine Klamotten an seinen muskulösen Körper schmiegen, fallen sofort auf.
Er lässt den Blick durch den Raum wandern, ganz beiläufig von Bank zu Bank. Seine Augen erreichen meine und etwas passiert, aber ich kann es nicht benennen. Als ginge etwas zwischen uns beiden vor. Als hätte er mich erkannt und etwas in mir darauf reagiert ⦠aber das war nicht
ich
. Ich werde rot, und Hitze steigt in mir auf, während er meinen Blick, ohne ein Lächeln, viel länger hält, als es für einen Lehrer normal ist. Als er schlieÃlich doch wegschaut, fühlt es sich an, als wäre ich aus der Höhe fallen gelassen worden. Mir ist schwindlig und gleichzeitig übel.
»Guten Morgen«, beginnt er. »Miss Fern wird euch in nächster Zeit nicht unterrichten. Sie hatte einen bedauerlichen Unfall. Ich bin Mr Hatten.« Er dreht sich um und schreibt seinen Namen an die Tafel.
Hat er eine Pause zwischen âºbedauerlichâ¹ und âºUnfallâ¹ gemacht?
Es war kein Unfall.
Nicht schon wieder die Lorder wie bei Gianelli, nicht schon wieder! Ich beiÃe mir auf die Zunge, um mich auf den Schmerz zu konzentrieren und auf nichts anderes. Haben sie sie mitgenommen? Und wenn ja â warum? Mir fällt kein einziger Grund ein. Sie war eine gute Lehrerin und ansonsten völlig unauffällig. AuÃerdem hat bei Gianelli niemand ein Geheimnis um sein Verschwinden gemacht, vielmehr war das Gegenteil der Fall. Warum sollten sie es jetzt tun?
Vielleicht gab es einen anderen Grund, sie zu ersetzen. Vielleicht ist Hatten einer von
ihnen
.
Ich beobachte ihn, während er durch die Klasse geht und jeder sich vorstellen muss, damit er sich einen Sitzplan machen kann. Er sieht nicht wie ein Lorder aus. Die Wachmänner tragen immer graue Anzüge oder â bei Einsätzen â schwarze Kleidung, aber es gehört noch mehr dazu. Lorder â egal wie aufmerksam sie sind â kümmern sich grundsätzlich nicht um Jugendliche, denn wir sind es nicht wert. Hatten ist anders: Er ist mehr als interessiert an uns und sich jeder einzelnen Person im Raum bewusst.
»Und du bist wer?«
Ben lächelt. »Ich bin Ben Nix. Geht es Miss Fern denn gut? Was ist passiert?«, fragt er.
Köpfe drehen sich, Ohren werden gespitzt. Manchmal ist es besser, keine Fragen zu stellen. Aber Hatten erwidert das Lächeln. »Sie wird wieder gesund. Sie war in einen Autounfall verwickelt und liegt im Krankenhaus.«
»Der Nächste«, sagt er dann und sein Blick ruht nun auf mir â wieder einmal. Selbst von Weitem konnte ich die seltsame Farbe seiner Augen
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