Geraubte Erinnerung
auf den kurzläufigen Smith & Wesson .38er in meinem Schoß. Ich hatte mich überzeugt, dass die Waffe auf dem Bildschirm nicht zu sehen war, doch es war beruhigend, sie in Reichweite zu wissen. Mit neuer Zuversicht starrte ich auf das rote Licht.
»Vor zwei Jahren hatte Peter Godin, Gründer der Godin Supercomputer Corporation, eine Eingebung ähnlich jenem geheimnisumwitterten Augenblick, als Isaac Newton ein Apfel auf den Kopf fiel. Es geschah in einem Traum. Scheinbar aus dem Nichts heraus hatte ein siebzig Jahre alter Mann die revolutionärste Eingebung in der Geschichte der Wissenschaften. Als er aufwachte, rief Godin bei John Skow an, einem Deputy Director der NSA in Ford Meade, Maryland. Bis um sechs Uhr morgens hatten die beiden Männer einen Brief an den Präsidenten der Vereinigten Staaten abgefasst und versandt. Dieser Brief erschütterte das Weiße Haus bis ins Fundament. Ich weiß darüber Bescheid, weil der Präsident seit dem College der beste Freund meines Bruders war. Mein Bruder starb vor drei Jahren, doch ihm verdanke ich, dass der Präsident von meiner Arbeit wusste – und das ist der Grund dafür, weshalb ich bei sämtlichen nachfolgenden Ereignissen mitten im Geschehen war.«
Ich rieb über das kühle Metall des .38er, während ich überlegte, was ich erzählen und was ich auslassen sollte. Lass nichts aus, sagte eine leise Stimme in meinem Kopf. Die Stimme meines Vaters. Fünfzig Jahre zuvor hatte er selbst seine Rolle in der geheimen Geschichte der Vereinigten Staaten gespielt, und diese Bürde hatte seine Lebenszeit sehr verkürzt. Mein Vater starb 1988, ein geplagter Mann, überzeugt, dass der Kalte Krieg, den zu verewigen er seine gesamte jugendliche Energie aufgewandt hatte, mit der Zerstörung der menschlichen Zivilisation enden würde. Lass nichts aus …
»Das Godin-Memo«, fuhr ich fort, »hatte die gleichen Auswirkungen wie der Brief, den Albert Einstein zu Beginn des Zweiten Weltkriegs an Präsident Roosevelt geschickt hatte. In diesem Brief wies Einstein auf die Möglichkeit einer Atombombe hin und darauf, dass Nazideutschland unter Umständen bereits dabei war, diese Atombombe zu entwickeln. Einsteins Brief setzte das Manhattan Project in Gang, die geheime Forschung, die sicherstellen sollte, dass Amerika die erste Nation war, die über Nuklearwaffen verfügte. Peter Godins Brief hatte ein Projekt ähnlicher Tragweite, wenngleich mit unendlich größeren Ambitionen zur Folge. Project Trinity nahm hinter den Mauern eines getarnten NSA-Unternehmens im Triangle-Technologiepark von North Carolina Gestalt an. Lediglich sechs Menschen auf diesem Planeten besaßen je volle Kenntnis über das Projekt. Nun, da Andrew Fielding tot ist, sind nur noch fünf übrig. Ich bin einer davon. Die anderen vier sind Peter Godin, John Skow, Ravi Nara …«
Ich sprang mit dem .38er in der Hand auf, als jemand an meine Haustür klopfte. Durch die dünnen Vorhänge sah ich einen Lieferwagen von Federal Express am Bürgersteig stehen. Was ich aber nicht sehen konnte, war der Bereich unmittelbar vor der Tür.
»Wer ist da?«, rief ich.
»FedEx!«, erwiderte eine männliche Stimme gedämpft. »Ich brauche eine Unterschrift!«
Ich erwartete keine Sendung. »Ist es ein Brief oder ein Paket?«
»Brief.«
»Von wem?«
»Äh … Lewis Carroll?«
Ich erschauerte. Ein Brief von einem Toten? Nur eine einzige Person würde mir unter dem Namen des Verfassers von Alice im Wunderland einen Brief schicken. Andrew Fielding. Hatte er am Tag vor seinem Tod einen Brief an mich geschrieben? Fielding hatte die Labors der Trinity seit Wochen wie ein Besessenerdurchsucht, sowohl die Computer als auch die Räumlichkeiten. Vielleicht hatte er etwas gefunden. Und was immer er gefunden hatte, hatte vielleicht seinen Tod verursacht. Fieldings Verhalten gestern war mir merkwürdig erschienen – was schon etwas heißen will bei einem Mann, der für seine Exzentrizität berühmt war –, doch heute Morgen war er wieder ganz der Alte gewesen.
»Wollen Sie nun den Brief oder nicht?«, rief der Bote.
Ich spannte den Hahn des Revolvers und schob mich vorsichtig zur Tür. Ich hatte die Sicherheitskette vorgelegt, als ich nach Hause gekommen war. Nun sperrte ich mit der linken Hand die Tür auf und öffnete sie, so weit die Kette es zuließ. Durch den Spalt erkannte ich das Gesicht eines uniformierten Mannes Mitte dreißig, der seine langen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte.
»Schieben Sie Ihren Block
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