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Geraubte Erinnerung

Geraubte Erinnerung

Titel: Geraubte Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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dies zu überprüfen. Ich wusste, dass ichmöglicherweise genauso tot enden würde wie Fielding, bevor ich eine Gelegenheit fand, mit dem Präsidenten zu sprechen, falls jemand von Project Trinity zuerst von meinem Anruf erfuhr.
    Ich drückte die START-Taste der Fernbedienung und blickte erneut in die Kamera.
    »In den vergangenen sechs Monaten ist mein anfängliches Gefühl, an einem erhabenen wissenschaftlichen Projekt mitzuarbeiten, mehr und mehr der Frage gewichen, ob ich überhaupt in den Vereinigten Staaten lebe. Ich habe zugesehen, wie Nobelpreisträger sämtliche Prinzipien über Bord geworfen haben auf der Suche nach …«
    Ich verstummte. Irgendetwas hatte sich vor meinem Fenster bewegt. Ein Gesicht. Sehr nah. Es hatte ins Haus gespäht. Ich hatte es durch die dünnen Vorhänge hindurch gesehen, kein Zweifel. Ein Gesicht, gerahmt von schulterlangem Haar. Ich meinte, weibliche Gesichtszüge erkannt zu haben und …
    Ich wollte aufstehen, setzte mich dann aber wieder. Meine Zähne klapperten in elektrisiertem Schmerz, als hätte ich Aluminiumfolie zwischen zwei Zahnfüllungen geklemmt. Meine Augenlider waren mit einem Mal so schwer, dass ich sie nicht mehr offen halten konnte. Nicht jetzt!, dachte ich und steckte die Hände in die Taschen, um nach meiner Medikamentenflasche zu suchen. Herrgott, nicht jetzt! Seit sechs Monaten litt jedes Mitglied von Trinitys innerem Zirkel an beängstigenden neurologischen Symptomen. Und bei allen waren sie völlig unterschiedlich. Meine Beeinträchtigung war Narkolepsie. Narkolepsie und Träume. Zu Hause fiel ich üblicherweise in einen tranceähnlichen Schlaf. Doch wenn ich einen Anfall unterdrücken musste – beim Projekt oder wenn ich mit dem Wagen unterwegs war –, konnten allein Amphetamine die überwältigenden Anfälle aufhalten.
    Ich zerrte meine Medikamentenflasche hervor und schüttelte sie. Leer. Ich hatte mein Speed immer von Ravi Nara bekommen, dem Neurologen von Project Trinity, doch Nara und ich redeten nicht mehr miteinander. Ich versuchte mich zu erheben, wollte eine Apotheke anrufen und mir meine eigenenAmphetamine verschreiben, doch das war ein lächerliches Unterfangen. Ich konnte nicht einmal stehen. Eine bleierne Schwere breitete sich in meinen Gliedern aus. Mein Gesicht wurde ganz heiß, und meine Augenlider sanken herab.
    Da war es wieder. Das Gesicht am Fenster. In meiner Vorstellung hob ich meine Smith & Wesson und zielte damit auf das Fenster, doch dann sah ich, dass die Waffe immer noch in meinem Schoß lag. Nicht einmal der nackte Überlebenswille vermochte den Nebel zu vertreiben, der sich in meinem Kopf ausbreitete. Ich blickte zum Fenster. Das Gesicht war verschwunden. Ein Frauengesicht. Ich war mir ganz sicher. Würden sie eine Frau schicken, um mich zu töten? Selbstverständlich. Sie waren pragmatisch. Sie benutzten, was funktionierte.
    Irgendetwas kratzte an meinem Türknauf. Durch den immer dichteren Nebel hindurch kämpfte ich darum, meinen Revolver auf die Tür zu richten. Etwas krachte gegen das Holz. Ich bekam den Finger um den Abzug, doch als mein benebelter Verstand den Befehl aussandte, abzudrücken, raubte der Schlaf mir so plötzlich das Bewusstsein wie ein Finger, der eine Kerzenflamme ausschnippt.
    Andrew Fielding saß allein an seinem Schreibtisch und rauchte wütend eine Zigarette. Seine Hände zitterten nach einer Konfrontation mit Godin. Die Szene lag bereits einen Tag zurück, doch Fielding hatte die Angewohnheit, Ereignisse wie dieses in Gedanken zu wiederholen und sich darüber zu ärgern, wie kraftlos er seinen Standpunkt verteidigt hatte, während er Antworten vor sich hin murmelte, die er zum passenden Zeitpunkt hätte geben sollen und nicht gegeben hatte.
    Der Streit war das Ergebnis wochenlanger Frustration gewesen. Fielding mochte Auseinandersetzungen nicht, jedenfalls nicht außerhalb des Reichs der Physik. Er hatte das Meeting bis zum letztmöglichen Augenblick vor sich hergeschoben. Er stapfte in seinem Büro auf und ab und grübelte über einem der zentralen Rätsel der Quantenphysik: Wie konnten zwei Teilchen, diezur gleichen Zeit aus der gleichen Quelle abgeschossen wurden, im gleichen Augenblick am gleichen Zielort sein, obwohl das eine zehnmal so weit fliegen musste wie das andere. Es war, als würden zwei 747 von New York nach Los Angeles fliegen – eine auf direktem Weg, die andere zuerst südlich nach Miami, bevor sie auf Westkurs in Richtung Los Angeles ging – und trotzdem landeten beide zur

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