Gesammelte Wanderabenteuer

und einen Buckel bekamen. Zudem waren anscheinend die Menschen im Spessart wegen Mangelernährung kleiner als in anderen deutschen Landschaften. Im Bergbau setzte man auch Kinder ein, die dann aufgrund der schweren Arbeit Wachstumsstörungen hatten (siehe Oskar der Blechtrommler). Die meist kleinen Bieberer Bergleute wurden dann im Volksmund zu Zwergen. Die putzige Zwergenzipfelmütze war zudem Teil der mittelalterlichen Bergmannstracht: Man trug Kapuze. Das ist auch der ikonographische Hintergrund des klassischen Gartenzwergs. Mit der Zipfelmütze, der Schubkarre und der Spitzhacke möchte er nicht den Vorgarten umgraben, sondern im Bergwerk nach Silber suchen.
     
    Eine Stunde hinter der Waldkapelle kam ich an den Pavillon Weidmannsruh, der aussah wie ein römischer Wachturm: viele Holzplanken, wenige Fenster und Türen und acht Meter hoch. Hier soll angeblich der Jäger Schneewittchen freigelassen haben. Ganz schön weit waren die beiden zu zweit marschiert. Hatte er sie die ganze Zeit hinter sich hergeschleift, oder war sie freiwillig mitgegangen? Auf jeden Fall war der Freilassungspunkt strategisch günstig gewählt. 200 Meter hinter Weidmannsruh endet nämlich das bayrische Territorium, und das hessische beginnt. Dort war die Wahrscheinlichkeit |422| für Schneewittchen höher, sich dem Zugriff ihrer Eltern zu entziehen. Ich ging nun genau auf der Grenze zwischen den beiden Bundesländern und ehemaligen Königreichen. Auf der einen Seite sah ich Grenzsteine mit der Aufschrift KB (steht nicht für Kilobyte, sondern für Königreich Bayern), auf der anderen mit der Aufschrift KP (nicht Kommunistische Partei, sondern Königreich Preußen). Langsam wurde mir klar, dass ich genau auf der Gesinnungs- und Geschmacksgrenze ging, die viele Menschen als »Weißwurstäquator« bezeichnen.
     
    Nach einer längeren Rast am Wiesbüttsee verlief der Schneewittchenfluchtweg eine halbe Stunde lang parallel zum ältesten Fernwanderweg des Spessarts, dem Eselsweg, benannt nach den Eseln, die wertvolles Salz durch den Spessart transportierten. Man hatte den Höhenweg zum Schutz vor den in den Tälern wohnenden Räubern angelegt. Wie kein anderes deutsches Mittelgebirge ist der Spessart verbunden mit einem Gebäude, dem berühmten Wirtshaus, in dem diese mordlustigen Buben hausten. Bei Wilhelm Hauff bildet das Wirtshaus im Spessart die Rahmenhandlung für weitere Geschichten. Die dort abgestiegene Reisegruppe muss realisieren, dass sie in eine Räuberhöhle geraten ist, und vertreibt sich die Zeit unter anderem mit der Erzählung »Das kalte Herz«. Im Schloss von Lohr hatte ich gesehen, dass das original Spessart-Wirtshaus sehr unromantisch vor Jahren einer Autobahnraststätte zum Opfer gefallen war.
     
    An einem Waldrastplatz ging es bergab Richtung Bieber. Ich war in Zwergenbergbaulaune und pfiff laut das Zwergenlied (»Hei ho, hei ho, was sind wir wieder froh«). Kein Scherz, die Vögel des Waldes versuchten ernsthaft, mir Konkurrenz zu machen. Ich überquerte eine Landstraße und ging, statt  |424| auf dem kürzesten Weg hinunter nach Bieber, noch einmal bergan zum Burgberg. Ob Schneewittchen auch diesen Umweg gemacht hat? Ich beendete die Wanderung in der Gaststätte »Bieberer Stollen« im Ortskern. Enttäuscht war ich, als in der Gaststätte nur normal gewachsene Menschen saßen. Ich hatte mir das anders vorgestellt. Bieber schien kein Ort zu sein, in dem im 21. Jahrhundert eine siebenköpfige reine Männer-WG wohnen möchte, egal welcher Körpergröße.
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    Das Ende einer Wanderung: Die Zwergen-Kneipe in Bieber
    |424| Das Besondere am Schneewittchenfluchtweg ist, dass er im Unterschied zu anderen Wegen nur in eine Richtung gegangen werden kann. Normalerweise ist es egal, ob man einen Wanderweg rechts herum oder links herum, von Norden nach Süden oder umgekehrt geht. Aber von den Zwergen in Bieber ins Lohrer Schloss zu flüchten wäre gegen die ganze Intention. Die Wegemarkierung berücksichtigt diesen Umstand, die Pfeile weisen nur in nördliche Richtung.
    Um das Schneewittchen-Gefühl zu erleben, sollte man die 35 Kilometer an einem Stück gehen, abends ankommen, von kleinen Tellern essen und sich dann todmüde in das erstbeste Bettchen fallen lassen. Ursprünglich hatten die Gebrüder Grimm ihre Märchen nicht ausschließlich für Kinder gesammelt, und so ist auch dieser Weg nicht wirklich ein Kinderweg. Dafür ist er einfach viel zu lang. Er ist aber trittsicher, und es gibt keine spitzen Steine, von denen im