Gesammelte Wanderabenteuer
Spiegel. Diesen Spiegel, den die äußerst selbstsüchtige Freiherrin ständig um Rat befragte, sah ich im Spessartmuseum, das sich im Schloss befindet. Dort werden auch die Schneewittchenfluchtschuhe aufbewahrt. Ein Echtheitszertifikat liegt leider nicht vor, aber der Glaube versetzt bekanntlich Berge.
Das Spieglein an der Wand
So wie einst das arme Kind mit dem Jäger stieg ich die Anhöhen hinauf. Im Waldgebiet zwischen Lohr und Partenstein studierte ich die Forstwege-Typologie des Spessarts. Ich ging über matschige, geteerte, geschotterte, bewieste und zugewachsene Forstwege . Bergab nach Partenstein lief ich mehr als ich ging. Aber auf einem Fluchtweg sollte |419| man nicht bummeln. Flüchten ist kein Spaß, flüchten ist Stress! In Partenstein hinter einem Eisenbahnviadukt traf ich auf zwei moderne Wiedergängerinnen des Schneewittchens. Die Haare so schwarz wie es das Färbemittel zuließ, die Haut so bleich, als wären beide schon lange nicht mehr an die frische Luft gekommen, und die Lippen so rot wie Lippenstift. Die beiden hatten keine Eile und machten auf einer Bank Erinnerungsfotos. Sie waren nicht auf der Flucht.
Nicht die Schuhe von Aschenputtel, sondern die von Schneewittchen
An der Burgruine Bardenstein machte ich eine kurze Rast und aß eine Tafel Schokolade. Das arme Schneewittchen hatte wahrscheinlich auf seiner langen Flucht nichts dabeigehabt. Allerdings kann die Menge des Proviants entscheidend sein, wie im Märchen »Die beiden Wanderer«, das zu den eher unbekannten der Gebrüder Grimm zählt. Nichts für zartbesaitete Seelen, ein Wanderepos um Schuld und Sühne.
Zwei Handwerksburschen, ein fröhlicher Schneider und ein mürrischer Schuster, beschließen, zusammen auf Wanderschaft durch die großen Städte zu gehen. Der Schneider ist ein wahrer Hallodri, verdient gut und haut mit dem Schuster gemeinsam das Geld wieder auf den Kopf. Auf dem Weg zur prachtvollen Königsstadt müssen die beiden durch einen großen Wald. Dort führen zwei Wege hindurch. Der eine dauert sieben Tage lang, der andere zwei. Kein Mensch weiß aber, welcher Weg der kurze und welcher der längere |420| ist. Der griesgrämige Schuster sorgt für alle Fälle vor und schultert Brot für sieben Tage. Der lebenslustige Schneider sieht überhaupt nicht ein, sich unnötig abzuschleppen, verlässt sich auf Gott und sein Glück und nimmt nur Proviant für zwei Tage mit. Es kommt, wie es kommen muss, die beiden haben den längeren Weg erwischt. Am fünften Tag ist der Schneider kurz vor dem Hungertod, würde ihm der Schuster nicht von seinem Brot abgeben. »Okay, mache ich«, sagt dieser, aber »dafür will ich dir dein rechtes Auge ausstechen«. Gesagt getan, der Schuster gibt ihm das Brot, sticht ihm mit dem Messer das Auge heraus, und die beiden wandern weiter durch den unheimlichen Wald, in dem kein Ton zu hören ist und kein Sonnenstrahl hindurchdringt. Am siebten Tag muss der Schneider auch noch sein zweites Auge für Brot opfern. Nachdem die beiden endlich das Ende des Waldes erreicht haben, lässt der Schuster den blinden und damit berufsunfähigen Schneider unter einem Galgen liegen. Aber siehe da: Der Tau, vermischt mit dem Leichenwasser der Erhängten, bringt dem Blinden das Augenlicht wieder, so dass der Schneider frohgemut und sehend zur Königsstadt am Horizont weiterwandert. Dort wird er Hofschneider, muss sich aber schlimmen Intrigen seines alten Peinigers erwehren, der es inzwischen zum Hofschuster gebracht hat. Der Schneider erfüllt zahlreiche, eigentlich unlösbare Aufgaben, ist der große Held und bekommt die älteste Königstochter zur Gemahlin. Der Schuster dagegen wird aus der Stadt gejagt und empfängt seine gerechte Strafe. Die Krähen auf dem Galgen hacken ihm die Augen aus, und »unsinnig rannte er in den Wald und muss dann verschmachtet sein«. Super-Story, ein richtig guter Hollywoodstoff für eine ganz neue Filmgattung, das Wandermovie.
|421| Eine Stunde nach Partenstein, hinter einer Waldkapelle, kam mir ein älteres Ehepaar entgegen, beide kaum größer als 1,55 Meter. Die Menschen wurden immer kleiner, je mehr ich mich Bieber, dem Ort der Zwerge, näherte. In Bieber wurde seit dem 15. Jahrhundert Silber, Kupfer und Blei abgebaut. Es gab sogar einen Bieberer Taler. Für die Arbeit in den sehr niedrigen Stollen ohne Loren und andere technische Hilfsmittel wurden bevorzugt kleinwüchsige Männer eingestellt, die durch die schwere Arbeit in gebückter Haltung oft noch kleiner wurden
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